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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
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abwesend, fast verträumt.
    Mit einem leichten Schaudern wickelte ich die Puppe wieder in das Papier, sorgsam darauf bedacht, keine Strähne des dunklen Haars hervorschauen zu lassen. Dann legte ich das Bündel auf den Boden, dorthin, wo Anna es nicht sehen konnte.
    »Es war ein Fehler, sie Ihnen zu bringen«, sagte ich bedauernd.
    »Machen Sie sich nichts daraus.«
    »Eigentlich gehört sie wohl doch nicht Ihnen.«
    »Sondern ihr? Ja, mag sein.«
    »Darf ich Ihnen etwas gestehen?«
    Ihr Lächeln wirkte traurig, als sie langsam nickte.
    »Ich habe meine Rolle gerne gespielt«, sagte ich. »Trotz allem.«
    »Ihre Rolle?« Sie klang nicht wirklich verwundert.
    Ich zögerte mit einer Erwiderung. Bei all dem war ich immer nur ein Spielball gewesen. Eine Puppe wie die am Boden, benutzt, um Gefühle und Wünsche in Anna zu beleben, die ihr Glaube abgetötet hatte. Ich sollte das fehlende Glied sein, das die beiden Flügel des Schmetterlings von neuem aneinanderband.
    Trunkene, herrliche, verrückte Narretei.
    »Die Rolle des Lebemanns und Weiberhelden«, sagte ich, und auch das war die Wahrheit. »Die des Trinkers. Die Rolle des Dichters, der nicht mehr weiß, worüber er schreiben soll, weil es nichts mehr gibt, woran er glaubt.«
    Ihr Blick war warm und voller Sanftmut, doch dahinter knisterte eine gleißende Flamme, eben erst entfacht. »Haben Sie selbst sich denn wirklich so gesehen?«
    Ich nahm ihre Hand und suchte im Schweigen nach einer Antwort.

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    27
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    Am Abend wählte ich die falsche Abzweigung und irrte mit brennenden Fußsohlen durch das Labyrinth der Gassen, bis ich endlich den kleinen Platz wiederfand.
    Die Schatten der Fassaden waren finsterer, als ich sie in Erinnerung hatte. Die braunen Laubwälle reichten mir fast bis zur Schulter.
    Ich legte das Bündel am Boden ab und grub ein Loch in das Blättermeer, dort wo sich seine Wogen an den Häuserwänden brachen. Ich zerriß das Papier und warf es achtlos beiseite.
    Annas langes Haar umhüllte den kleinen Körper wie ein dunkles Gewand. Nur die schwarzen Augen glitzerten wie Edelsteine im Mondlicht.
    Ich legte die Puppe in das Loch, häufte Laub auf ihr Gesicht und auf den starren kleinen Leib.
    Über mir knirschte ein Fenster. »Was tun Sie denn da?« rief eine Stimme.
    Ich schaute nicht auf, humpelte nur langsam auf meiner Krücke davon. Ich verließ den Platz durch den einzigen Ausgang. Im Davongehen grüßte ich die Schatten. Das Laub unter meinen Füßen fühlte sich an, als wäre es aus Glas.

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    NACHWORT DES AUTORS
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    Als Anna Katharina Emmerick am 9. Februar 1824 starb, kam ihr Tod für niemanden überraschend. Schon Wochen vorher waren ihre Schmerzen fast unerträglich geworden. Während der letzten acht Tage sprach sie nur noch mit ihrem Beichtvater Pater Limberg und ihrer Schwester Gertrud. Anna wußte, daß sie sterben würde, und es war ihr Wunsch, daß niemand sonst Zeuge ihres Todes wurde.
    Clemens eilte am frühen Abend des 9. Februar in ihre Kammer, aber Anna war bereits tot. Fünfeinhalb Jahre lang hatte er jeden Tag neben ihrem Bett gesessen und in Stichworten ihre Visionen und Gesichte festgehalten, um sie später zu Texten auszuformulieren. Seine Niederschrift ihrer Traumberichte umfaßt rund 14000 Seiten. Ein Großteil davon ist bis heute unveröffentlicht.
    Brentano war im September 1818 als überzeugter Atheist nach Dülmen gekommen. Seine Schriften waren bis zu diesem Zeitpunkt überwiegend vom schwärmerischen Geist der Romantik geprägt. Weder die Literaturwissenschaft noch die Theologie vermag bis heute nachzuweisen, was wirklich während seiner ersten Wochen in Dülmen geschah und ihn zum Bleiben veranlaßte. Ihm, dem eitlen, oft als arrogant und egoistisch gescholtenen Stadtmenschen, muß der ärmliche Ort im Münsterland wie eine andere Welt erschienen sein. Zudem bekam er Streit mit Limberg, Wesener und Gertrud; allein dem alten Abbé galt seine Achtung.
    Was also konnte solch einen Mann, einen Frauenliebling und verwöhnten Kaufmannssohn, derart fesseln, daß er dafür nicht nur auf all den Luxus seines früheren Lebens verzichtete, sondern noch dazu auf all die gelehrten Freundinnen und Freunde, die ihm fortan – wenn überhaupt – nur noch mit verhohlenem Spott begegneten?
    Fest steht, daß Brentano sich mit einemmal in eine Welt des Übernatürlichen versetzt sah, die ihn mit Marienvisionen, nächtlichen Teufelsbesuchen und Geistreisen ins Heilige Land konfrontierte. Spötter haben behauptet, sein
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