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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
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schwerer Eisklotz festzusitzen, der jeden Atemzug zu etwas Festem, Schmerzhaftem gefror.
    Wahrscheinlich waren auch meine Augen von Eisblumen überzogen.
    »Der Doktor hat Sie behandelt. Er hat es nicht gerne getan, aber immerhin ist er Arzt mit Leib und Seele.«
    Ich kannte diese Stimme, wollte mit ihr sprechen, brachte aber keinen Ton heraus.
    »Sie sind noch zu schwach. Viel zu schwach. Was immer dort oben auf dem Turm geschehen ist, es hat Sie eine Menge Kraft gekostet. Man könnte fast meinen, Sie wären mit diesen Verletzungen dort hinaufgestiegen, nicht Anna.«
    Wo war sie? Wie ging es ihr?
    »Sie sollten noch etwas schlafen, mein Freund.«
    Bitte, ich muß…
    »Ruhen Sie sich aus!«
    Ich kann nicht, ich…
    »Machen Sie die Augen zu. Ja, so ist gut.«
    Aber… bitte, ich muß wissen…
    »Und jetzt – schlafen Sie!«

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    22
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    »Wie lange?« Meine Stimme klang, als hätte jemand meinen Kehlkopf mit Schleifpapier bearbeitet. »Sie müssen es mir sagen, Abbé. Wie lange liege ich jetzt schon hier?«
    »Den dritten Tag.« Der alte Geistliche kratzte sich am Kopf.
    »Das Ganze hat Sie ganz schön mitgenommen.«
    »Wie geht es Anna?«
    »Sie sollten jetzt erst einmal an sich selbst denken, mein Freund. Ihr Zustand ist schlecht genug für zwei.«
    »Bitte, ich muß wissen, wie es ihr geht.«
    Der Abbé senkte den Kopf und rieb sich mit den Handballen über die Augen. »Ich würde Ihnen eine Antwort geben, wenn ich eine wüßte.«
    Mir war immer noch kalt, obwohl es im Kachelofen des Gasthofzimmers angenehm knisterte. Mein Hals brannte, und beim Luftholen spürte ich ein leichtes Stechen in der Brust.
    »Wie meinen Sie das?« fragte ich krächzend.
    »Ich habe Anna seit zwei Tagen nicht gesehen.«
    »Aber Sie sind ihr Oheim!«
    »Niemand wird zu ihr vorgelassen, nicht einmal Doktor Wesener. Nur Pater Limberg hatte ganz kurz Zutritt, aber er spricht kaum mit uns darüber.«
    »Wer läßt niemanden zu ihr vor? Doch nicht etwa Gertrud?«
    Er lachte heiser. »Gertrud? Gott bewahre! Nein, nein, ich fürchte, die Lage ist ein wenig verzwickter.«
    Ich versuchte, mich im Bett aufzusetzen. Es gelang mir zu meiner eigenen Überraschung recht gut, doch sofort wurde das Stechen in meiner Lunge heftiger.
    Der Abbé sprang auf und schob mich an den Schultern zurück in die Kissen. »Schonen Sie sich, um Himmels willen!«
    rief er aufgebracht. »Ihre Lunge hat sich entzündet, Ihre Mandeln waren zwei Tage lang so groß wie Hühnereier, und das Fieber ist erst heute morgen zurückgegangen. Sie sollten Ihre Kräfte nicht überschätzen.«
    Meine Rechte packte den Abbé am Unterarm. »Sagen Sie mir, was mit Anna passiert ist!«
    »Das sollten Sie doch am besten wissen, oder?« Mühelos löste er meinen Griff um seinen Arm und ließ sich müde zurück auf seinen Stuhl fallen. »Sie war ohne Bewußtsein, als wir sie in Ihren Armen fanden. Der Doktor brachte sie zurück in ihre Kammer. Sie hätten ihn hören sollen! Noch nie habe ich solche Flüche aus seinem Mund gehört. Trotzdem ging es Anna bald besser, schon ein paar Stunden später. Sie hatte viel Blut verloren, weit mehr als sonst, wenn ihre Wunden sich öffnen, und sie war sehr schwach. Aber sie konnte bereits wieder sprechen, und als erstes hat sie nach Ihnen gefragt. Das war, wie gesagt, vor drei Tagen. Da haben Sie noch tief und fest geschlafen. Nicht einmal der Doktor konnte feststellen, wie Sie sich all diese Entzündungen geholt haben. Sicher, es war windig dort oben, aber Sie müssen diese Krankheit schon seit längerem in sich getragen haben, schon bevor Sie nach Dülmen kamen. Und ich fürchte, der Branntwein hat es nicht besser gemacht.« Er schloß einen Moment lang die Augen, als müsse er sich auf das besinnen, was er eigentlich hatte sagen wollen. »Anna, ja… sie bekam Besuch, vorgestern morgen.
    Erst kam nur eine Kutsche mit einem Medizinal-Regierungsrat aus Münster. Ihm folgten im Laufe des Tages ein halbes Dutzend weiterer Männer, und als Annas Kammer zu klein wurde für all diese Menschen, ließ der Regierungsrat sie kurzerhand ins Stadthaus verlegen.«
    Abermals setzte ich mich auf, so hastig, daß der Stich in meiner Brust mir einen Augenblick lang den Atem und beinahe auch die Sinne nahm. »Man hat sie fortgebracht? Ohne ihre Zustimmung?«
    Der Abbé hob die Augenbrauen und betrachtete mich eingehend. »Vielleicht ist das alles ein wenig zu aufregend für Sie, in Ihrem Zustand. Ich hätte wohl besser schweigen sollen.«
    »Nein!« Mein
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