Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jäger

Jäger

Titel: Jäger
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
 
Kapitel 1
     
28. Mai – San Diego, Kalifornien
     
    Zum allerletzten Mal sprach ich mit Rob, als ich mein Gepäck
am Lindbergh Field aufgab. Ich wollte nach Seattle fliegen, um mich
mit einem potenziellen Geldgeber zu treffen. Mein Handy piepste,
gleichzeitig blinkte auf dem Display Nemesis auf, der Code
für meinen Bruder. Wir hatten seit Monaten nicht mehr
miteinander gesprochen.
    »Hör mal, Hal, hat Dad dich angerufen?«, fragte
Rob. Er klang ziemlich geschafft.
    »Nein«, sagte ich. Dad war vor drei Jahren in einem
Krankenhaus in Ann Arbor gestorben. An Leberzirrhose. Wegen
zerplatzter Venen in seiner Speiseröhre war er an seinem eigenen
Blut erstickt.
    »Jemand hat mich angerufen, der wie Dad klang, ich
schwör’s dir.«
    Mom und Dad waren geschieden. Mom, die inzwischen in Coral Gables,
Florida, wohnte, wollte mit unserem Vater, selbst als er im Sterben
lag, nichts mehr zu tun haben. Rob hatte die Totenwache an seinem
Krankenbett gehalten. Ehe ich in ein Flugzeug steigen und zu ihnen
fliegen konnte, war Dad gestorben. Nachdem er sein zusammenhangloses
Fluchen – Demenz aufgrund von Leberversagen – eingestellt
hatte und eingeschlafen war, hatte Rob das Zimmer verlassen, um sich
eine Tasse Kaffee zu holen. Bei seiner Rückkehr hatte er unseren
Vater aufrecht im Bett sitzend vorgefunden. Sein Kopf war zur Seite
gesunken, das stoppelige Kinn und die bleiche, eingefallene Brust
waren voller Blut. Er sah wie ein altersgrauer Vampir aus. Dad war
gestorben, noch ehe die Schwestern nach ihm sehen konnten. Im Alter
von fünfundsechzig Jahren.
    Es war ein trauriger, schlimmer Tod gewesen, das Ende eines
holprigen Weges, auf dem Dad ganz bewusst kein einziges Schlagloch
ausgelassen hatte. Meinem Bruder war sein Tod ziemlich an die Nieren
gegangen.
    »Du bist erschöpft, Rob«, bemerkte ich. Der
Flughafen – Meilen von poliertem Stahl und dickem, grün
eingefassten Glas – verschwamm vor meinen Augen, umgab mich wie
ein riesiges Aquarium.
    »Stimmt«, erwiderte er. »Du etwa nicht?«
    Am Vorabend war ich noch in Hongkong gewesen, ich hatte seit
achtundvierzig Stunden nicht mehr geschlafen. Bei
Überseeflügen kann ich nie schlafen. Ein nebelhaftes Chaos
aus Namen und lächerlichen Besprechungen sowie Magenschmerzen,
die ich der Bordküche der französischen Fluglinie
verdankte, waren alles, was ich als Ergebnis meiner Reise vorweisen
konnte. Ich fühlte mich wie ein Vorführhund, der ohne
Siegerschleife von einer Hundeschau heimkehrt.
    »Nein«, log ich. »Mir geht’s gut.«
    Rob brummelte noch eine ganze Weile über dieses und jenes.
Seine Arbeit laufe nicht gut, außerdem habe er Probleme mit
seiner Frau. Lissa war eine langbeinige blonde Schönheit, die
– gemessen an Aussehen und Charme – weit oberhalb unserer
Liga spielte. Er klang genauso müde, wie ich mich fühlte,
wirkte aber noch verwirrter als ich selbst. Ich glaube, er wollte mir
damals nicht sagen, wie schlimm es in Wirklichkeit um ihn stand.
Schließlich war ich sein jüngerer Bruder. Wenn auch nur um
zwei Minuten.
    »Jetzt hab ich die ganze Zeit nur von mir geredet«,
sagte er schließlich. »Was macht die Forschung?«
    »Geht so.«
    »Ich wollte es dir nur sagen.« Stille.
    »Was?« Ich hasse Geheimniskrämerei.
    »Gib gut auf dich Acht.«
    »Wie meinst du das? Hör auf, in Rätseln zu
sprechen.«
    Robs Lachen wirkte gezwungen. »Lass dich nicht unterkriegen,
Prinz Hal.«
    So nannte er mich, wenn er mich auf die Palme bringen wollte.
»Ha«, schnaubte ich.
    »Und falls Dad anruft«, fuhr er fort, »dann sag
ihm, dass ich ihn lieb habe.«
    Er legte auf. Umgeben von grünlichem Glas und blendend
weißem Stahl, blieb ich in einer Ecke der hohen,
sonnendurchfluteten Lobby stehen und wählte, leise vor mich hin
fluchend, zunächst seine Handy-Nummer. Als niemand abnahm,
probierte ich jede Nummer aus, die ich von ihm besaß.
    Schließlich erreichte ich Lissa in Los Angeles, die mir
mitteilte, Rob sei in San José, allerdings habe sie die Nummer
nicht – was denn los sei? Als ich erwiderte, er habe
erschöpft geklungen, sagte sie, er sei neuerdings sehr viel
unterwegs, sie hätten in letzter Zeit kaum miteinander
gesprochen. Da mir auf ihre hilflosen Vermutungen nur
Plattitüden einfielen, beeilte ich mich, das Gespräch zu
beenden.
    Manche Leute glauben, dass Zwillinge einander stets nah sind und
sogar wissen, was der andere gerade denkt. Stimmt nicht. Auf Rob und
mich trifft das überhaupt nicht zu. Wir haben wie Wildkatzen
miteinander
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher