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Jäger

Jäger

Titel: Jäger
Autoren: Greg Bear
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nicht mehr – seit der Scheidung von
Julia.
    Ich bin normalerweise ziemlich nervös, wenn ich fliege,
besonders in Hubschraubern. Aber der junge Pilot mit dem kantigen
Kinn und der metallischblauen Sonnenbrille war beruhigend geschickt.
Außerdem war ich viel zu sehr damit beschäftigt, die
Aussicht zu genießen.
    »Ich trug meinen pulverblauen Anzug«, lässt
uns Philip Marlowe in Der große Schlaf wissen, »mit dunkelblauem Hemd, Schlips und Brusttaschentuch,
schwarze Sportschuhe und schwarze Wollsocken mit dunkelblauem Muster.
Ich war frisch rasiert, sauber und nüchtern, und es war mir
egal, ob es jemand mitbekam… Ich wurde von vier Millionen Dollar
erwartet.«
    Ich trug ein schwarzes Sportjackett aus Baumwolle mit passender
Hose, ein zerknittertes weißes Hemd mit schwarzer Krawatte,
lange schwarze Socken, glänzend polierte schwarze Sportschuhe
wie Marlowe – und wurde von vierzig Milliarden Dollar erwartet.
Owen Montoya hätte die Sternwoods hundertmal kaufen und wieder
verkaufen können, selbst wenn man die Inflation seit damals mit
einrechnete.
    Ich hatte dieselben Klamotten getragen, als ich andere Gönner
besucht hatte, Geldgeber, die genügend visionäre
Vorstellungskraft besaßen oder durchgeknallt genug waren –
was zu unterscheiden mir manchmal schwer fiel –, ein kleines
Vermögen in einen Ponce de Leon der Mikrobiologie zu
investieren. Ich hatte meine Sache gar nicht so schlecht gemacht;
meine feine Beinarbeit hatte mich in den vergangenen fünf Jahren
mit ausreichenden Geldmitteln versorgt.
    Ich war kein Hochstapler. Wenn die Geldgeber schlau waren, dann
ahnten sie, dass ich mein Ziel fast erreicht hatte. Waren sie
jedoch dumm – wie Mr. Song –, dann investierten sie in
Schlangengallenextrakt, um sich eine Zukunft zu sichern.
    Ich war sehr nah dran. Nur noch ein bisschen Geld und sehr viel
harte Arbeit, und ich würde über die Mauer um den Garten
Eden springen können und den größten Schatz in der
Geschichte der Menschheit bergen: Energie und Lebenskraft für
tausend oder zehntausend Jahre, vielleicht auch für länger,
vorausgesetzt, es kam kein Unfall oder eine Naturkatastrophe
dazwischen.
    Es war eine umwerfende Vorstellung, die bei mir stets eine
Gänsehaut auslöste.
    Der Hubschrauber nahm in einer sanften Kurve Kurs nach Norden, wir
überflogen Blakely Point auf Bainbridge Island. Östlich
unserer Flugstrecke, etwa auf halbem Weg zwischen Bainbridge Island
und Seattle, thronte auf dem Wellengekräusel des blauen Meeres
ein weißer Vergnügungsdampfer – er ließ mich an
eine heitere, wohl genährte Dame denken –, dessen Bug in
eine golden leuchtende Nebelbank ragte.
    Viele Passagiere hatten sich auf dem überglasten
Aussichtsdeck unterhalb der Brücke versammelt, andere schwammen
in einem der drei silbern glitzernden Pools oder drehten sich
mittschiffs auf einer Tanzfläche unter freiem Himmel. Genau die
Art von Urlaub, die Julia liebte. Am Ende unserer Ehe war sie ohne
mich in die Ferien gefahren.
    Julia hatte das, was ich zu sagen hatte, schließlich
ungefähr so aufregend gefunden wie ein Seminar über die
Physiologie des Dickdarms. Sie hatte ihre Langeweile ein paar Jahre
lang vor mir verborgen, weil sie es andererseits durchaus toll fand,
mit einem jungen, zukünftigen Professor in unkündbarer
Stellung in Stanford verheiratet zu sein, einem Mann, der
regelmäßig kurze Aufsätze in Nature und
längere Diskurse im Journal of Age Research veröffentlichte. Doch die Kluft in unseren Köpfen,
unsere unterschiedliche Ausbildung – um nicht zu sagen Bildung
– machte ihr mit der Zeit immer mehr zu schaffen. Sie beklagte
sich, sie könne doch nicht…
    Genug von diesem Mist. Ich war keinesfalls bereit, die Ewigkeit
damit zu verbringen, über die Vergangenheit
nachzugrübeln.
    Zwei weiß-grüne Autofähren durchpflügten das
Wasser mit größerer Zielstrebigkeit und Turbinenkraft als
der Vergnügungsdampfer; in ihrem Kielwasser tummelten sich
weiße Segelboote, Katamarane und Kabinenkreuzer. Reiche
Sportsegler mit Einfluss, wo man auch hinsah. Aber wie viele von
ihnen hatten je von mir gehört? Wie viele würden
sich vielleicht sogar die Zeit nehmen, sich meine Ideen
anzuhören? Nicht viele. Sie waren wie Schafe, die zur
Schlachtbank rannten und dabei glücklich ihre wollenen
Schädel schüttelten – bää,
bää.
    Ich knirschte mit den Zähnen und bemühte mich, den
Sonnenuntergang zu genießen, der den Puget Sound so
verschwenderisch mit flüssigem Gold übergoss, dass
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