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Qual

Qual

Titel: Qual
Autoren: Greg Egan
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    »Gut. Er ist tot. Sie können jetzt mit ihm reden.«
    Der Bioethiker war ein lakonischer junger Asexueller mit blonden Rastalocken und einem T-Shirt, auf dem zwischen den bezahlten Werbebannern der Slogan UT – NEIN DANKE! aufblitzte. Hie setzte heine Gegenunterschrift auf den Genehmigungsantrag im Notepad der Gerichtsmedizinerin und zog sich dann in eine Ecke des Raums zurück. Der Traumatologe und der Sanitäter schoben ihre Wiederbelebungsapparate zur Seite, und die Pathologin trat eilig mit der Spritze in der Hand vor, um die erste Dosis Neurokonservator subkutan zu verabreichen. Das Präparat durfte nicht vor dem legalen Tod eingesetzt werden, da es im Verlauf mehrerer Stunden äußerst toxisch auf verschiedene Organe wirkte. Der Cocktail aus Glutamat-Antagonisten, Kalziumkanal-Blockern und Antioxidantien stoppte fast ohne Zeitverzögerung die gravierendsten biochemischen Veränderungen im Gehirn des Opfers.
    Der Assistent der Pathologin folgte ihr mit dem Rolltisch, auf dem sich sämtliches Zubehör für eine postmortale Wiederbelebung befand: ein Tablett mit chirurgischen Einweginstrumenten, mehrere elektronische Apparate, eine Pumpe, die an drei Glasbehälter in der Größe von Trinkwasserkanistern angeschlossen war, und ein Gebilde aus supraleitenden grauen Drähten, das wie ein Haarnetz aussah.
    Lukowski von der Mordkommission stand neben mir. »Wenn jeder genauso wie Sie ausgestattet wäre, Worth«, sagte er, »müßten wir solche Prozeduren gar nicht durchführen. Wir könnten das Verbrechen einfach von Anfang bis Ende abspielen. Als würde man Daten aus einem Flugschreiber auslesen.«
    Ich antwortete, ohne den Operationstisch aus den Augen zu lassen. Unsere Stimmen konnte ich später problemlos herausschneiden, aber ich wollte ohne Unterbrechung aufzeichnen, wie die Pathologin die künstliche Blutversorgung anschloß. »Wenn jeder seine optischen Reize aufzeichnen ließe, würden Mörder in Zukunft ihren Opfern vermutlich die Speicherchips aus dem Körper schneiden.«
    »Schon möglich. Aber in diesem Fall hat niemand versucht, am Gehirn des armen Kerls herumzupfuschen.«
    »Warten wir ab, bis die Dokumentation gesendet wurde.«
    Der Assistent sprühte ein Enthaarungsenzym auf den Schädel des Opfers und wischte dann die kurzen schwarzen Stoppeln einfach mit der Hand weg. Als er alles in eine Plastiktüte stopfte, erkannte ich, warum es eine zusammenhängende Masse blieb, statt sich wie beim Friseur über den Fußboden zu verteilen. Das Haar hatte sich samt der oberen Kopfhautschichten wie ein Skalp abgelöst. Nun klebte der Assistent das ›Haarnetz‹ – ein Geflecht aus Elektroden und SQID-Detektoren – auf die nackte rosafarbene Kopfhaut. Nachdem die Pathologin die Blutversorgung angeschlossen und überprüft hatte, machte sie einen Luftröhrenschnitt und schob einen Schlauch hinein, der von einer kleinen Pumpe gespeist wurde, die die Aufgabe der Lungen übernahm. Es war keine künstliche Beatmung, sondern lediglich eine Sprechhilfe. Es war zwar möglich, die Nervenimpulse zum Kehlkopf zu scannen und die beabsichtigten Laute durch rein elektronische Mittel synthetisch zu erzeugen, doch offenbar war die Stimme verständlicher, wenn das Opfer die gewohnten Sinnesempfindungen einer vibrierenden Luftsäule als Feedback spürte. Der Assistent legte dem Opfer eine gefütterte Bandage über die Augen, denn in seltenen Fällen kehrte sporadisch das Gefühl für die Gesichtshaut wieder, und da die Netzhautzellen absichtlich nicht wiederbelebt wurden, stellte eine vorübergehende Augenverletzung die einfachste Lüge dar, um dem Opfer die pragmatisch bedingte Blindheit zu erklären.
    Ich überlegte mir einen möglichen Kommentar. Im Jahre 1888 versuchten Polizeiärzte, die Netzhäute eines Opfers von Jack the Ripper zu fotografieren, in der vagen Hoffnung, das Gesicht des Mörders könnte sich in die lichtempfindlichen Pigmente des menschlichen Auges eingebrannt haben…
    Nein, viel zu vorhersehbar. Und irreführend obendrein, denn die Wiederbelebung war kein Prozeß, bei dem Informationen aus einer leblosen Leiche gewonnen wurden. Aber welche möglichen Vorbilder gab es sonst noch? Orpheus? Lazarus? ›Die Affenpfote‹? ›Das verräterische Herz‹? Re-Animator? Weder im Mythos noch in der Literatur gab es ein Beispiel, das der Wahrheit nahegekommen war. Es war besser, keine eloquenten Vergleiche zu bemühen. Die Leiche sollte für sich selbst sprechen.
    Der Körper des Opfers
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