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Schlangenkopf

Schlangenkopf

Titel: Schlangenkopf
Autoren: Ulrich Ritzel
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E s gibt Abende, an denen Zlatan kein Trinkgeld bekommt. Nicht einen Cent. So etwas passiert, wenn die Gäste meinen, das sei Sache des Gastgebers, und der Gastgeber der Ansicht ist, er habe schon mehr als genug bezahlt, Service inbegriffen. Beamte denken so.
    Ist das wichtig?
    Ja und nein.
    Weil es kein Trinkgeld gab, hat sich Zlatan kein Taxi geleistet.
    Das muss ja auch nicht sein.
    Zu lange waren die Gäste ja nicht geblieben.
    Das war gut, denn so hatte er sich gerade noch umziehen können und die letzte U-Bahn erwischt.
    Ist das wirklich gut? Die Straße vor ihm zieht sich zwischen dunklen hohen Häuserfronten hin, ganz selten nur ist eines der Fenster beleuchtet und gibt Zeichen davon, dass da noch ein anderer Mensch lebt und wacht, mitten in der Nacht. Und am Ende der Straße sieht Zlatan gestochen scharf die Mondsichel, die knapp über den Dächern hängt, als könnte sie weiß Wunder welche Märchen erzählen.
    Zlatan verspürt einen Stich. Es gab einmal eine Zeit, da hatte er nachts nichts anderes zu tun, als den Mond anzusehen. Oder darauf zu warten, dass er sich wieder zeigte. Nur – er erinnert sich nicht gerne an diese Zeit. Er hat Gründe, sich nicht gerne zu erinnern. Jetzt bist du hier, ermahnt er sich, nirgendwo anders und in keiner anderen Zeit.
    Hier! Jetzt! Er hört, wie seine Schritte auf der Straße widerhallen. Das ist doch er, der so geht? Er atmet scharf aus und tief wieder ein, er hat eine Empfindung in der Brust, die muss er ausschalten, weil … es ist keine Angst. Oder noch keine. Höchstens die kleine Angst, die verfluchte Vorbotin und Vorausschleicherin der großen, der richtigen Angst … Und die richtige Angst … davon reden wir besser nicht. Wer weiß, wie es ist, wenn sie nach dem Herzen greift und es zusammenpresst und einen ersticken will – wer das wirklich weiß, der will das nicht noch einmal erzählt bekommen, der ist froh, wenn er nichts davon hört und nicht daran erinnert wird. Und wer es nicht weiß, der soll das Maul halten und froh sein, dass er keine Ahnung hat …
    H ier ist Berlin«, sagt die Stimme, »die Stadt, die niemals schläft, Sie hören Wanda Kuhlebrock auf Radio Fünf Neunundsechzig, es ist ein Uhr fünf, die Nacht hat also noch gar nicht begonnen, und mit mir und meinen schnuckeligen Oldies wird sie Euch nicht langweilig werden, die Außentemperatur liegt bei neun Grad – dass sich da draußen keiner den Hintern verkühlt! –, der Luftdruck liegt bei eintausendelf Hektopascal, der Wind kommt aus Südsüdwest, falls einer von euch Süßen segeln gehen will, keine Staus, keine Verkehrsbehinderungen, dann verkehrt mal schön, und wenn’s nicht flutscht, dann ruft mich an, Wanda weiß, wie’s geht … Damit ihr in Stimmung kommt, jetzt erst mal was von na … von Serge Gainsbourg und Jane Birkin, Viens entre mes reins , und wenn ihr nicht wisst, was die da treiben, dann dürft Ihr dreimal raten …«
    Die Frau hinterm Steuerrad des Wagens, der am Straßenrand abgestellt ist, tastet mit der rechten Hand nach der Aus-Taste des Radios, dann lässt sie sie wieder sinken. Ein Mann kommt die Straße hoch, er geht auf der Fahrbahn, betrunken? Aber ja doch. Die Frau lehnt sich im Fahrersitz zurück, egal, was sie jetzt macht, es ist falsch. Es ist falsch, das Radio laufen zu lassen, und es ist falsch, es auszumachen. Der Betrunkene kommt am Wagen vorbei, merkt auf, scheint stehen bleiben zu wollen, Jane Birkin stöhnt, der Betrunkene hebt die Hand, als wolle er seinen Segen dazu geben, dann wendet er sich ab und torkelt weiter die Straße hinauf.
    »Na«, meldet sich Wanda Kuhlebrocks Stimme, »wisst Ihr Schätzchen jetzt, was das heißt: Viens entre mes reins ? Übrigens sollen das die Nieren sein, rein anatomisch hab ich das so eigentlich noch nie gesehen …«
    Auf dem Beifahrersitz beginnt das Handy zu vibrieren, und das Display leuchtet auf. Diesmal stellt die Frau das Radio ab, greift zum Handy und meldet sich mit einem knappen: »Ja?«
    »Er ist ausgestiegen«, kommt die Antwort.
    Weiter wird nichts gesprochen.
    Die Frau startet den Wagen. Es ist ein Landrover, fast neu, und der leise Motor ist im Leerlauf kaum zu hören. Noch einmal überprüft die Frau die Einstellung der Außenspiegel, dann lehnt sie sich wieder in ihrem Sitz zurück, entspannt, gelassen, die behandschuhten Hände auf das Lenkrad gelegt.
    D as sind deine Schritte, die du da hörst, sagt sich Zlatan, es sind ruhige, gleichmäßige, sichere Schritte, jetzt geht es vorbei an der
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