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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
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prüfend in ihr Gesicht, und ich spürte seinen brennenden Wunsch, ihren Puls zu fühlen, zu spüren, ob sie Fieber hatte.
    Doch er hielt sich zurück, und nach einigen Schritten, während derer Anna ihn überhaupt nicht beachtete, ging er wieder zu den beiden anderen zurück.
    Ich sah kaum nach vorne, beobachtete nur von der Seite Annas blutleere Züge, ihre aufeinandergepreßten Lippen, sah zu, wie ihre Nasenflügel unter dem heftigen Ein- und Ausatmen erbebten. Ihr Blick war starr geradeaus gerichtet.
    Ich hatte schon Zweifel, ob sie überhaupt etwas um uns herum wahrnahm, als sie sich plötzlich in meinem Arm versteifte und flüsterte: »Sehen Sie, dort vorne!«
    Ich folgte ihrem Blick und erschrak. Um ein Haar wäre ich stehengeblieben.
    Vor uns war, eine rettende Insel im Ozean, das Portal der Stadtkirche aufgetaucht, umspült von buntem
    Menschenschaum. Doch das war es nicht, was Anna meinte und mir solchen Schrecken einflößte.
    Vor dem offenen Doppeltor, eingefaßt vom
    kerzenbeschienenen Inneren der Kirche, stand eine Gestalt in flatternden Gewändern. Herbstlaub umschwirrte sie. Sie hatte den Kopf gesenkt, so daß die Schleierfontäne ihres dunklen Haars ihren Oberkörper verbarg; es sah aus, als starrte sie angestrengt auf etwas, das unsichtbar vor ihr am Boden lag.
    Sie stand reglos da, vollkommen unbewegt wie eine Statue, und nur die weiten Gewänder umwirbelten sie wie schwarzer Rauch, als käme der Wind aus allen Richtungen zugleich.
    Niemand sonst schien sie zu bemerken.
    Sie genießt diesen Auftritt, dachte ich mit plötzlicher Schärfe.
    Sie will uns ihre Macht beweisen. Aber warum hat sie das nötig? Sie ist die Mutter Gottes. Weshalb tut sie das?
    Wir waren bis auf zehn Schritte an sie herangekommen, als sie sich umdrehte und in einer Flut aus wehendem Stoff ins Innere der Kirche schwebte. Herzschläge später war sie mit dem Zwielicht zwischen den Kerzenflammen verschmolzen, ein Schatten unter vielen.
    Ich durfte meinen Widerwillen nicht zeigen. Wenn ich Anna jetzt zurückhielt, würde sie keinen weiteren Schritt mehr machen. Allein ihr eiserner Wille trieb sie vorwärts. Sie durfte jetzt nicht zweifeln, nicht an sich selbst, nicht an ihrem Ziel.
    Ich schwieg, obwohl alles in mir danach schrie, den irren Gang sofort abzubrechen.
    Als wir in den Schatten des Torbogens tauchten, trat uns aus dem Inneren eine Silhouette entgegen. Ich schrak zusammen, aber Anna drängte unbeeindruckt weiter. Es war kein Geist, keine biblische Erscheinung. Nur Dechant Rensing, der uns zögernd anlächelte, teils aufmunternd, teils zweifelnd.
    »Willkommen«, sagte er, aber Anna schien ihn kaum wahrzunehmen. Sie schleppte sich an ihm vorüber in Richtung der Seitentür. Ich spürte, wie sie in meinem Griff immer schwerer wurde. Ihre Kraft ließ nach.

    Wortlos begannen wir den Aufstieg zur Turmspitze. Das enge Treppenhaus schraubte sich steil nach oben. Der Lärm der Menge, beim Betreten der Kirche neu ausgebrochen, blieb nach einigen Stufen zurück, klang bald nur noch gedämpft durch die mächtigen Mauern.
    Ich machte gar nicht erst den Versuch, die Stufen zu zählen.
    Schwer atmend nahmen wir Absatz um Absatz, ganz allein in dem schmalen Schacht. Anna hatte verfügt, daß Limberg, Wesener und der Abbé unten zurückbleiben sollten. Zu meinem Erstaunen hielten sie sich daran. Weder vor noch hinter uns war jetzt irgend etwas zu hören, nur der Hall unserer Schritte geisterte dumpf durch das Treppenhaus, schien mal abwärts, mal empor zu steigen und uns auf dem Weg mit kalter Berührung zu streifen.
    »Nur noch ein kleines Stück«, flüsterte ich, meine ersten Worte, seit wir das Bäckerhaus verlassen hatten. Sie kamen mir gleich darauf dumm und nutzlos vor. Anna hatte keine Aufmunterung nötig, nicht von mir oder irgendeinem anderen Sterblichen.
    Sie sagte nichts, nickte nicht einmal. Lenkte all ihre Reserven in ihre Beine, nahm tapfer jede Stufe. Ihr Körper zitterte in meiner Umarmung, erbebte im Kampf mit der eigenen Schwäche. Ich fragte mich, wie sie den Rückweg bewältigen wollte.
    Was aber, wenn sie gar nicht daran dachte, jemals wieder von hier fortzugehen? Wenn sie glaubte – hoffte, betete? –, dort oben beim Klang ihrer geliebten Glocke zu sterben?
    Ich tue das, weil ich so lange wie möglich bleiben will. Bei Ihnen, Clemens.
    Das sagt niemand, der den Tod sucht. Oder doch?
    Schließlich erreichten wir den oberen Absatz. Eine breite Leiter führte hinauf in die Glockenkammer unterhalb der Turmspitze.
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