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Mondlaub

Titel: Mondlaub
Autoren: Tanja Kinkel
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PROLOG

Die Saat
       
    Ich verbarg mich vor meiner Zeit im Schatten ihrer Schwingen.
    Mein Auge sieht diese Zeit, sie aber sieht mich nicht.
    Fragt man die Tage, was mein Name sei, 
    sie wissen ihn nicht, 
    Noch weiß der Ort, da ich weile, wo ich bin.
    Ibn al Arif, »Mahasin al-Madjalis«
      

    Im Frühling des Jahres 876, Anno Domini 1471, wurde der Knabe Abu Abdallah Muhammad, Sohn des Emirs von Granada, von seinem Sklaven Ibrahim geweckt, als es noch dunkel war. Muhammad war zwölf Jahre, alt genug, um nicht mehr bei den anderen Kindern zu schlafen und seine eigenen Räume zu haben, und überdies war er der Kronprinz. Eigentlich hätte er auf niemanden mehr Rücksicht zu nehmen brauchen; dennoch kleidete er sich mit Ibrahims Hilfe so leise wie möglich an, fast geräuschlos, nachdem er die morgendlichen Waschungen und Gebete in aller Eile zelebriert hatte. Er war sehr aufgeregt, denn sein Vater hatte versprochen, ihn mit auf die Falkenjagd zu nehmen, und Muhammad würde heute zum ersten Mal seinen eigenen Falken fliegen lassen, den er selbst abgetragen hatte.
    Der Junge rannte fast, als er in dem Vorhof eintraf, wo die Pferde bereits gesattelt standen. Sein Vater, der Emir Abul Hassan Ali, war gerade dabei, einen der Falken zu beruhigen, die aus dem Verschlag gebracht wurden. Er streichelte ihn mit einer Feder und stieß leise, monotone Laute aus. Muhammad sah ihm schweigend zu - er wusste es besser, als jetzt etwas zu sagen - und fuhr dann zusammen, als sich von hinten eine Hand auf seine Schulter legte.
    »Du vergeudest wahrhaftig keine Zeit, Junge.«
    Beim Klang der Stimme entspannte sich Muhammad. Er drehte sich um und begrüßte seinen Onkel, der denselben Namen wie er trug, aber von allen nur al Zaghal genannt wurde, »der Tapfere«. Schon bald nach seinen ersten Kämpfen hatten ihn seine Männer mit diesem Beinamen geehrt, und Muhammad konnte sich nicht erinnern, dass man seinen Onkel je anders angesprochen hatte. Lediglich der Fürst von Granada nannte seinen Bruder gelegentlich Muhammad.
    »Heute«, sagte Muhammad der Jüngere leise, mit unterdrückter Erregung, »werde ich Zuleima das erste Mal frei fliegen lassen.«
    Sein Onkel nickte verständnisvoll. »Dein erster Falke, wie? Wahrlich ein besonderer Tag.«
    »Und er hat lange genug darauf gewartet«, meinte Muhammads Vater, der seinen eigenen Falken inzwischen sicher auf dem Block vor seinem Sattel abgesetzt hatte, lächelnd. »Ich habe ihm gesagt, ein Falke gehört dem Jäger nur dann, wenn er ihn selbst zähmen kann, etwas, was viele erwachsene Männer nicht fertig bringen, weil es ihnen an Geduld fehlt - aber Muhammad hat es geschafft.«
    Wohlwollender Stolz und Anerkennung lagen in seiner Stimme, und Muhammad versuchte, nicht zu erröten. Lob von seinem Vater war hoch geschätzt und selten. Er überspielte seine verlegene Freude, indem er selbst ins Falkenhäuschen ging, um Zuleima nach draußen zu bringen. Drinnen war es fast vollkommen dunkel, nur eine sorgfältig abgeschirmte Öllampe glühte vom Dachbalken herab.
    Aber Muhammad brauchte kein Licht, um Zuleima zu finden.
    Er kannte den Weg inzwischen so gut wie den scharfen, durchdringenden Geruch nach Vögeln und schmutzigem Stroh, der den Verschlag durchzog. Hier hatte er gestanden, manche Nacht lang, mit verkrampften Beinen und schmerzendem Rücken, und hatte darauf gewartet, dass das Wanderfalkenweibchen brach, dass es von seinem Handschuh kröpfte. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, und mehr als einmal war Muhammad nahe daran gewesen aufzugeben oder einzuschlafen. Aber der Gedanke an die verächtliche Stimme seines Vaters, die sagte: »Wer einschläft, ist es nicht wert, einen Falken auch nur anzusehen«, hielt ihn immer wieder wach. Und als Zuleima schließlich von seiner Hand gekröpft hatte, war es ihm wie ein überwältigender Triumph erschienen.
    »Zuleima«, flüsterte er jetzt und lockerte langsam den geschlitzten Riemen, der den Vogel an den dünnen Ständer band. »Du Wunder.«
    Als er mit dem Falken nach draußen kam, saßen sein Vater und al Zaghal bereits im Sattel. Muhammad dachte, dass sie sich sehr ähnlich sahen: Beide hatten die scharf geschnittenen, unerbittlichen Züge der Banu Nasr, ihrer Familie, beide waren groß und von Sonne und Wind gebräunt. Aber während al Zaghals Mund dünn und streng wie eine Damaszenerklinge war, neigte der Abul Hassan Alis, großzügig und sinnlich, sich häufig dem Gelächter und den Freuden des Lebens zu.
    Sie hatten die Stadt bald
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