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Mondlaub

Titel: Mondlaub
Autoren: Tanja Kinkel
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hätten dich nicht angefasst. Jungfrauen sind selten und kostbar. Aber jetzt - was glaubst du, warum ich mich so lange bemüht habe, aus dir eine Frau mit etwas Fleisch und Erfahrung zu machen? Auch das ist wertvoll, und wenn du klug bist, kannst du weit mit dem kommen, was ich dir beigebracht habe. Wenn du klug bist und nicht darauf bestehst, dich zu verunstalten. Sei vernünftig morgen, wenn mein Freund aus der Hauptstadt kommt.«
    Damit stand er auf, klopfte ihr einmal auf die Schulter und ging.
    Sie starrte ihm nach. Vor noch nicht einmal achtzehn Monaten war Isabel ein Kind gewesen, das vom Leben immer nur das Beste erwartete, aufgewachsen in einer privilegierten Umgebung. Ihr kam es vor, als läge diese Zeit so weit zurück, dass sogar die Erinnerung daran schwer fiel. Mittlerweile hatte sie gelernt, dass niemand ihr zu Hilfe kam, wenn sie schrie, dass es niemanden kümmerte, was aus ihr wurde… sogar ihren Vater nicht. Der Eunuch hatte Recht. Er würde sich ihrer schämen, wäre wahrscheinlich froh über ihren Tod.
    Sie begann wieder zu weinen, wie sie es in den letzten achtzehn Monaten so oft getan hatte, doch sie bemerkte es kaum noch.
    Ihre Tränen schienen nur noch ein Echo ihrer Vergangenheit zu sein, genau wie ihre Verzweiflung und ihre Hoffnungen. Zö gernd griff sie nach dem Brot, das sie bisher verschmäht hatte.
    Ihr Magen revoltierte nach dem ersten Bissen, und sie brauchte eine Stunde, bis sie tatsächlich in der Lage war, Nahrung und Wasser bei sich zu behalten, doch in dieser Stunde hatte sie einen Entschluss gefasst, der ihr altes Selbst unter sich begrub.
    Niemand würde sie retten, wenn sie sich nicht selbst rettete.

I
Granada
    Gott segne sie, die schöne Zeit, verlebt in der Alhambra.
    Verging die Nacht, so gingst du hin, zum Stelldichein bereit.
    Der Boden schien dir dann von Silber, doch wie bald schon hüllte
    die Morgensonne die Sabika in ihr goldnes Kleid.
    Ibn Malik

    Zwillinge, so lehrte der große Ibn Sina, sind von Geburt an weniger lebensfähig. Einige seiner Kommentatoren fügten hinzu, Zwillinge seien außerdem dazu bestimmt, Unglück nicht nur für sich, sondern auch für ihre gesamte Umgebung heraufzubeschwören. Für die Zwillinge, die in der roten Burg Granadas, al qual’a alhamra, zur Welt kamen, hatte das Unglück schon lange vorher begonnen: an dem Tag, als Abul Hassan Ali, der Herrscher von Granada, zum ersten Mal Isabel de Solis sah.
    Der oberste Eunuch hatte einige neue Sklavinnen für den Harem seines Herrn erworben. Das war in diesen schwierigen Zeiten zwar nicht alltäglich, besonders, da der Harem nicht übermäßig groß war und Ali an seiner Gemahlin, Alscha al Hurra, hing, aber es war auch nicht so ungewöhnlich. Ungewöhnlich war nur eines. Abul Hassan Ali sah Isabel de Solis und verliebte sich in sie.
    Er gab ihr eigene Räume und eine eigene Dienerschaft und überhäufte sie mit Geschenken. Nicht länger besuchte er die anderen Konkubinen seines Harems, und nicht länger teilte er das Bett mit seiner Gemahlin Alscha al Hurra. Die neue Leidenschaft des Fürsten versetzte die Alhambra in Aufregung, sorgte für Wogen des Klatsches, die sogar in die christlichen Königreiche überschwappten. Aber immer noch nahm man an, es handle sich um ein zwar erstaunliches, aber kurzlebiges Phä nomen, wie eine Sternschnuppe.
    Doch Alscha war erbittert und zornig. Sie war keine Konkubine, die man beiseite schieben konnte, wenn einem die Laune danach stand. Sie war die rechtmäßige Gattin des Herrschers von Granada, die Tochter eines seiner Vorgänger auf dem Thron, die Mutter seines Erben, in ihren Adern floss das Blut des Propheten, und sie würde nicht zulassen, dass eine christliche Sklavin so viel Zeit und Aufmerksamkeit ihres Gemahls in Anspruch nahm. Sie begann, Isabel bei jeder Begegnung zu schikanieren und zu demütigen.
    Isabel verbeugte sich, wie Alscha es verlangte, fiel auf die Knie, bediente sie im Bad. In ihrem Innern fing sie an, Alscha zu hassen, aber noch mehr als die gegenwärtige Feindseligkeit von Abul Hassan Alis Gemahlin beunruhigte sie der Gedanke, was Alscha mit ihr tun würde, wenn die Leidenschaft des Fürsten einmal erlosch. Wenn Isabel einfach eine vergessene Konkubine mehr war. Sie hatte es satt, immer nur ein Opfer zu sein, und sie war nicht weniger willensstark als Alscha.
    Isabel handelte. Sie trat zum Islam über und nahm den Namen Zoraya an, »Morgenröte«. Und dann verwandelten sich die Wellen des Klatsches um die neue Favoritin des Emirs
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