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Mondlaub

Titel: Mondlaub
Autoren: Tanja Kinkel
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hinter sich gelassen, und aus der Morgendämmerung schälten sich die schneebedeckten Berge hervor wie ungeheure Ifrits, die Luftgeister der Märchen, aus den Wolken. Es würde ein wunderbarer Tag werden, und Muhammad war entschlossen, jede Minute davon zu genießen. Sein Onkel indessen hatte an diesem Morgen mehr als nur die Falknerei im Sinn. Al Zaghal drängte sein Pferd näher an das des Fürsten von Granada heran und signalisierte ihm, etwas zurückzubleiben.
    »Bruder«, sagte al Zaghal unvermittelt in seiner rauen Stimme,
    »was glaubst du, warum ich aus Malaga hierher gekommen bin?«

    »Um mich zu besuchen, hoffe ich«, erwiderte Ali lächelnd. Al Zaghal machte eine ungeduldige Handbewegung. »Zwölftausend Dinare«, sagte er. »Wie lange noch? Wie lange willst du diesen Tribut noch zahlen, zu dem unser Vater sich von den Christen hat zwingen lassen? Wie lange werden wir uns noch demütigen müssen vor den Ungläubigen? «
    Ali seufzte. »Du weißt genau, dass unser Vater die Christen nur so aufhalten konnte - mit Geld. Sie hatten den Jabal Tariq erobert, verwüsteten bereits unser Land. Sie waren stärker.«
    »Damals.« Al Zaghal stieß einen verächtlichen Laut aus. »Vor zehn Jahren. Aber jetzt hat der König von Kastilien die Wahl zwischen zwei Weibern als Nachfolger, seine Edlen sind untereinander zerstritten, der König von Aragon bekriegt sich mit dem König von Portugal - nun ist der richtige Moment gekommen, Ali! Hör auf, den Tribut zu zahlen. Hol unsere Brüder aus Fez zu Hilfe, und ich sage dir, die Anhänger des Propheten werden al Andalus ein zweites Mal erobern!«
    »Unsere Brüder aus Fez«, wiederholte der Fürst von Granada gedehnt. »Kannst du dich nicht erinnern, Bruder, was das letzte Mal geschah, als ein Emir von Granada das versuchte? Sie kamen, ja, und sie blieben und entthronten ihn, und er musste mit Hilfe der Ungläubigen seinen Thron zurückerobern. Schande!«
    »Aber«, unterbrach al Zaghal, doch Abul Hassan Ali war noch nicht fertig. »Und was die Ungläubigen selbst angeht - sie mö gen jetzt zerstritten sein, zumindest die Kastilier, aber wenn wir sie angriffen - weißt du, was geschehen würde? Sofort wären sie wiedervereint. Sie betrachten es als heilige Sache, uns völlig aus al Andalus zu vertreiben, und das werde ich nicht zulassen.«
    Al Zaghal setzte zu einer hitzigen Antwort an, aber Ali hob die Hand. »Genug davon. Die erste Falkenjagd meines Sohnes ist nicht der Ort für ein solches Gespräch.«

    Muhammad hatte mehr von dem Gespräch verstanden, als sein Vater und sein Onkel beabsichtigt hatten, und er machte sich seine Gedanken. Seine Lehrer hatten ihn mit der Geschichte seiner Heimat vertraut gemacht. Damals, als Tariq der Eroberer und Musa ben Nusair die alte römische Provinz Hispania von den Westgoten erobert und sie al Andalus genannt hatten, waren sie bis Narbonne in Gallia vorgedrungen. Lange Zeit hatte das große Gebirge al Andalus die natürliche Grenze im Norden dargestellt. Doch inzwischen, siebenhundert Jahre nachdem Tariq das Land an der nach ihm benannten Stelle - Jabal Tariq - zum ersten Mal betreten hatte, war von al Andalus nur Granada geblieben. Wie war das den Christen gelungen, obwohl sie einander ständig befehdeten, wie es zur Zeit wieder geschah?
    Er wusste, dass der König von Kastilien, Enrique, der seinem, Muhammads, Großvater den Tribut abgezwungen hatte, keinen Sohn hatte. Stattdessen besaß er eine Schwester, Isabella, und eine Tochter, Juana. Beide erhoben Anspruch auf die Thronfolge, und beide fanden unter den Granden Unterstützung. Wenn sich, wie sein Vater prophezeite, die Christen dennoch einigen würden, um gegen Granada zu kämpfen, musste ihnen der Hass gegen die Moslems wirklich das Wichtigste sein, was Muhammad nicht ganz verstand. Schließlich hatte kein moslemischer Herrscher in al Andalus je versucht, den Christen ihren Glauben zu nehmen und sie mit Gewalt zum Islam zu bekehren. »Siehe, sie, die da glauben, und die Juden und die Nazarener - wer immer an Allah glaubt und an den Jüngsten Tag und das Rechte tut, die haben ihren Lohn bei ihrem Herrn, und Furcht kommt nicht über sie, und nicht werden sie traurig sein.«
    So lehrte es der Koran. Muhammad entschied, dass ihn die Christen zu sehr verwirrten, um weiter über sie nachzugrübeln.
    Schließlich war heute der Tag, sein Tag, und es war an der Zeit, die Falken fliegen zu lassen.

    Die Treiber hatten inzwischen eine Schar Rebhühner aufgestö bert, und Muhammad biss
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