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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
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sondern einzig und allein für sich selbst. Weil Sie Angst vor diesem… diesem Drachen haben.«
    Sie erwiderte meinen Blick sehr lange und gelassen. »Ich tue das, weil ich noch nicht von hier fortgehen möchte«, sagte sie voller Sanftmut. »Weil ich so lange wie möglich bleiben will.
    Bei Ihnen, Clemens.«

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    20
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    Ohrenbetäubender Jubel raste wie ein Flächenbrand durch die Menge. Die Luft war von Laub und Geschrei erfüllt. Das Meer aus Häuptern am Straßenrand wogte auf und ab, während der Wind Blätterwirbel über die Köpfe hinwegfegte. Dennoch berührten nur wenige davon den Boden der Schneise, als hielte jemand eine unsichtbare Hand über Annas Weg.
    Wesener hatte darauf bestanden, Anna auf einer Trage zur Kirche zu bringen, doch sie hatte ebenso unnachgiebig abgelehnt. Es gehöre zu der Prüfung, die Gott ihr auferlegt habe, daß sie die Strecke auf eigenen Füßen bewältige, hatte sie gesagt; ich allein dürfe dabei an ihrer Seite sein, um sie zu stützen. Alle anderen könnten sich gerne für den Fall der Fälle bereithalten, dürften sie jedoch nicht berühren.
    Für mich war ihre Beharrlichkeit alles andere als angenehm.
    Pater Limberg und der Doktor musterten mich mit unverhohlenem Haß, selbst der Abbé reagierte mit Zurückhaltung. Im Gegensatz zu den beiden anderen jedoch schwieg er, nachdem sein einziger Versuch, Anna umzustimmen, gescheitert war. Ich hatte das Gefühl, daß er verstand, was in ihr vorging.
    Als wir durch den Torbogen hinaus auf die Straße traten, ebbte der Lärm der Menge schlagartig ab. Dutzende, hunderte Gesichter wandten sich in unsere Richtung, manche fröhlich und aufmunternd, andere ausdruckslos, einige gar ablehnend.
    Ich hatte das Gefühl, als schlüge mir hier draußen eine noch größere Feindseligkeit entgegen als in Gesellschaft Limbergs und Weseners. Falls Anna irgend etwas zustoßen sollte, würde jedermann mir die Schuld daran geben, mir allein.
    Ich ging links von ihr und hatte einen Arm vorsichtig um ihre Schultern gelegt. Mit dem anderen hielt ich sie am linken Oberarm fest. Es war das erste Mal, daß wir nebeneinander standen, und ich war erstaunt, wie klein sie war: Anna reichte mir nicht einmal bis zur Schulter. Weil sie keine anderen Sachen besaß, hatte Gertrud ihr das alte Nonnengewand angezogen; nach den Jahren in der Kiste roch es wie die Kleider einer alten Frau. Gegen den scharfen Herbstwind hatte Gertrud ihr den eigenen Mantel umgelegt. Er war zu lang und schleifte mit dem Saum über den Boden.
    Noch im Haus, beim Abstieg auf der Wendeltreppe, hatte ich Anna ein paarmal angesprochen, ehe mir klar geworden war, daß sie vor Schmerz keine Antwort zustande bringen würde.
    Sie biß tapfer die Zähne aufeinander, ihr Gesicht war weiß und angespannt, und die Verbände an ihren Händen und auf der Stirn färbten sich bereits nach den ersten Schritten rot.
    Schweigend gingen wir die Straße hinunter. Limberg, Wesener und der Abbé folgten uns in einigen Schritten Abstand. Ich hörte, daß der Pater den anderen etwas zutuschelte, konnte die Worte aber nicht verstehen. Es hätte nicht viel Fantasie bedurft, mir ihre Bedeutung auszumalen, doch es kümmerte mich nicht, was er zu sagen hatte. Meine Gedanken galten nur Anna, der kleinen, tapferen Anna, dem zarten Fliegengewicht in meinem Arm, das sich entgegen aller Ängste und allen Leids zum ersten Mal seit mehr als fünf Jahren ins Freie wagte. Niemand konnte wirklich ermessen, wieviel Mut und Überwindung sie das kostete, nicht einmal jene, die ihr am nächsten standen.
    Wir kamen nur langsam voran, so langsam, daß aus den Menschenreihen am Straßenrand gelegentlich Rufe der Ungeduld ertönten. Ich wurde zornig, hätte die Dummköpfe am liebsten an den Haaren aus dem Schutz der Masse gezerrt.
    An Anna aber prallten die hämischen Bemerkungen ungehört ab, und nach einer Weile verstummten auch die ärgsten Spötter.
    Die meisten Menschen verfolgten Annas Weg jetzt mit stummer Anspannung. Ihre Blicke stachen von allen Seiten auf uns ein. So mußte sich Jesus gefühlt haben, dachte ich benommen, als er das Kreuz durch die Gassen Jerusalems trug, den Hang hinauf gen Golgatha, seiner Kreuzigung entgegen.
    Zu Anfang hatte ich befürchtet, Anna würde keine zwanzig Schritte weit kommen, und ich hatte mich bei dem Gedanken wie ein Verräter gefühlt. Jetzt aber hatten wir schon mehr als die Hälfte des Hinweges hinter uns gebracht. Einmal überholte uns Wesener und begutachtete Anna von vorne, schaute
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