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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
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Ich wollte Anna das letzte Stück hinaufheben, doch mit einem unmerklichen Kopfschütteln machte sie sich daran, die Sprossen aus eigener Kraft zu erklimmen. Ich hielt sie lediglich von hinten fest, fühlte jeden Wirbel in ihrem Rücken, ihr kleines, knochiges Gesäß.
    Dann waren wir oben. Endlich oben.
    Ein zugiger, viereckiger Raum. Acht hohe, schlanke Fenster ohne Glas, zwei in jeder Wand. Unter uns lagen spielzeugklein die Häuser der Stadt, jenseits davon die Hügel im Osten, die weiten Moore im Westen. Ein Vogelschwarm zog an uns vorüber, eine riesenhafte Pfeilspitze aus kleinen schwarzen Sicheln.
    Unter dem Balkenlabyrinth des Kirchendaches, hoch und düster über unseren Köpfen, hingen zwei Glocken, jede anderthalb Mannslängen hoch, gegossen aus Kupfer und Bronze. Beide waren in eine Balkenvorrichtung eingelassen, die sich durch ein armdickes Tau vor- und zurückschwenken ließ.
    Als ich Anna wieder anschaute, sah ich, daß sie weinte, und ich spürte, wie mir selbst die Tränen kamen. Wir standen da, hielten uns in den Armen und konnten nicht fassen, daß wir es tatsächlich bis hierher geschafft hatten. Vor Freude gab ich Anna einen zarten Kuß auf die Stirn, auf die Haut zwischen Augen und Verband; danach schmeckten meine Lippen eisern von dem Blut, das unter der Bandage hervorquoll. Als sie langsam zu mir aufschaute, lag tiefe Dankbarkeit in ihrem Blick.
    Ich wollte die Blutrinnsale auf ihrem Gesicht mit meinem Ärmel abtupfen, doch sie hielt mich mit einer schwachen Geste zurück. »Nicht«, flüsterte sie tonlos. »Das gehört allein dem Herrn.«
    Durch eines der Fenster wehte ein Schwall trockenes Herbstlaub herein, tanzte wie Stechmücken um unsere Köpfe.
    Ein warmer Wind fuhr in mein Haar, beulte Annas Mantel aus und verbreitete einen angenehmen Duft, den ich augenblicklich wiedererkannte. Anna mußte es genauso ergehen, denn wir schauten uns gleichzeitig um, ohne unsere Umarmung zu lösen.
    Die Erscheinung stand aufrecht in einem der hohen Fenster, durch und durch körperlich, gar nicht wie ein Geist. Sie hatte ihr Gesicht immer noch zum Boden gewandt und das lange Haar über ihre Stirn nach vorne geworfen. Jetzt hob sie langsam eine ihrer schmalen Hände und teilte den dunklen Haarschleier mit unendlicher Vorsicht, als läge etwas dahinter, das schon bei der leichtesten Berührung zerspringen könnte.
    Anna wurde unruhig und entwand sich meinen Armen. Einen Augenblick lang war ich abgelenkt, sah zu, wie sie allein die drei Schritte bis zum baumelnden Ende des Glockenseils bewältigte und mit beiden Händen danach griff. Der letzte Rest ihrer Kraft wurde von der schaukelnden Balkenkonstruktion vervielfacht und auf die mächtigen Glocken übertragen. Keine zwei Atemzüge später ertönte das erste Läuten, ein ohrenbetäubender Schlag, der mich mehrere Schritte zurücktaumeln ließ. Anna klammerte sich ungeachtet des Lärms an das Seil, während die Glocken ein ums andere Mal lautstark anschlugen. Ihr Klang hallte über ganz Dülmen hinweg, hinaus in die weite Landschaft, und obwohl sie jedes andere Geräusch übertönten, war ich sicher, daß die Menschenmenge in den Straßen in tosenden Beifall ausbrach.
    Einen Moment lang war es, als hätte etwas die Erscheinung im Fenster aus meinem Gedächtnis gestrichen, sie ausgeklammert aus dem Wunder, das sich vor meinen Augen vollzog. Dann aber schwenkte mein Blick wie von selbst zurück auf den Umriß vor dem hellen Himmelsrechteck.
    Die Erscheinung hatte sich das Haar jetzt vollends aus dem Gesicht gestrichen, hob langsam den Kopf, schaute mich an.
    Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
    Stocksteif stand ich da, konnte die Augen nicht von ihren Zügen nehmen. Als hätte es je einen Zweifel gegeben an dem, was ich vor mir sah… wen ich vor mir sah!
    Schlagartig breitete die Erscheinung beide Arme aus, als wollte sie auf den Winden davonfliegen. Tatsächlich aber warf sie ihr Gewand ab. Der schwarze Stoff wurde nach hinten gerissen, trudelte weit ausgebreitet davon und wellte sich auf den luftigen Brisen wie die Oberfläche eines Sees aus purem Pech. Flatternd verschwand er in der Ferne.
    Mein Blick war wie festgenagelt. Hinter mir verstummte das Läuten der Glocken, und doch konnte ich nur auf den nackten Leib der Frau im Fenster blicken. Schlanke Hüften, dazwischen das schattige Dreieck ihrer Scham. Rosige Brüste, aufgerichtet in wissender Arroganz. Und darüber, über schmalen Schultern, auf einem weißen, verletzlichen Hals: Annas
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