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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
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Herzschlag raste, das Stechen in meiner Lunge fiel in seinen Rhythmus mit ein und wurde zu einem einzigen, langanhaltenden Schmerz. Es fühlte sich an, als hätte irgend etwas unter meinen Rippen Feuer gefangen. »Sie müssen mir alles erzählen! Bitte, so sprechen Sie doch!«
    Der Abbé schüttelte den Kopf. »Ich sollte das nicht tun. Der Doktor…«
    »Der Doktor wird froh sein, wenn ich verrecke«, fiel ich ihm scharf ins Wort.
    »Sie sind ein Dummkopf, Brentano!« Zum ersten Mal sah ich den Abbé verärgert. »Doktor Wesener hat sich voller Aufopferung um Sie gekümmert. Sie verdanken ihm Ihr Leben. Wie können Sie da so etwas sagen?«
    »Es tut mir leid. Es ist wegen Anna. Ich mache mir Sorgen.«
    Er seufzte, dann nickte er besänftigt. »Wir alle machen uns Sorgen um sie. Wesener hat versucht, etwas aus dem Pater herauszubekommen, aber Limberg sagt, auch er hätte Anna nur zweimal sehen dürfen, und das nur ganz kurz. Sie liegt im großen Saal des Stadthauses. Man hat ein Bett für sie hineingestellt, genau in die Mitte, und all diese Männer sitzen und stehen und laufen um sie herum, machen irgendwelche Versuche mit ihr und…« Er brach plötzlich ab, holte Luft und blinzelte. Es war mir peinlich, einen so alten Mann weinen zu sehen, doch ich brachte kein Wort heraus.
    Der Abbé faßte sich. »Es ist wie damals, als die Kirche versucht hat, Anna Betrügerei nachzuweisen. Nur daß diesmal alles noch viel schlimmer kommt.«
    »Schlimmer? Wieso?«
    »Jetzt sind es die weltlichen Behörden, die sich ihrer annehmen. Es hat Beschwerden gegeben, sagt der Regierungsrat, Briefe von namhaften Persönlichkeiten. Das waren seine Worte: namhafte Persönlichkeiten! Als ob irgendwer, ob namhaft oder nicht, beurteilen könnte, was hier vorgeht!« Er wischte sich die Tränen vom Gesicht, doch ein Rest von Feuchtigkeit verfing sich in seinen Falten; als sich der Sonnenschein vom Fenster darin spiegelte, sah es aus, als glühte ein Licht in seinem Inneren, das durch haarfeine Risse nach außen fiel.
    Ich schwieg, lag nur da, stocksteif.
    Briefe von namhaften Persönlichkeiten.
    Es konnte nicht sein! Unmöglich! Wer kannte schon meinen Namen? Wer meine Gedichte, wer meine Märchen? Wohl kaum irgendein Medizinalrat aus dem Münsterland!
    Ich starrte fassungslos meine Hand an. Die verfluchte Hand, die in jener ersten trunkenen Nacht das Schreiben an die Regierungspräfektur verfaßt hatte. Schuldgefühle und Selbsthaß verschlugen mir die Sprache.
    Der Abbé bemerkte, daß sich mein Zustand verschlechterte.
    »Ich komme später wieder«, sagte er sanft und erhob sich. »Sie sollten noch etwas schlafen, wenigstens bis zum Abend. Dann kommt Wesener vorbei, um nach Ihnen zu sehen. Vielleicht hat er mehr zu berichten.«
    Er ging zur Tür, wandte sich dort noch einmal um.
    »Ich bin nicht sicher, was dort oben auf dem Kirchturm geschehen ist«, sagte er nachdenklich. »Aber Sie können mir vertrauen, mein Freund. Ich bin auf Ihrer Seite. So wie Sie auf Annas Seite sind.«

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    23
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    Ich versuchte nur ein einziges Mal, mich ohne Hilfe vom Bett zu erheben. Um Halt zu finden, tastete ich nach der Kante des Nachttisches und schlug dabei versehentlich ein Wasserglas herunter. Als ich meine Füße auf die Dielen setzen wollte, zerschnitten mir die Scherben die nackten Sohlen.
    Mit einem leisen Aufschrei zog ich die Beine zurück und sah, daß beide Füße bluteten, nicht kräftig, aber doch stark genug, um Spuren im weißen Bettzeug zu hinterlassen. Instinktiv schaute ich auf meine Handflächen, doch sie waren unversehrt.
    Welch ein verrückter Gedanke!
    Ich schlief tatsächlich wieder ein, doch Scham und Schuld diktierten meine Träume. Mehrmals erwachte ich von meinem eigenen Geschrei, und einmal kam sogar die Wirtsfrau ins Zimmer, weil sie glaubte, bei all dem Lärm müsse es unzweifelhaft mit mir zu Ende gehen. Wie durch Wasser hörte ich, wie sie die Scherben aufkehrte und wieder hinausging.
    Es dämmerte bereits, als mich das Öffnen und Schließen der Tür abermals aus finstersten Alpträumen riß. Doktor Wesener trat an mein Bett und sah das Blut am Fußende. Er runzelte die Stirn.
    »Wie geht es Ihnen?« fragte er.
    Tatsächlich war dies erst unsere dritte Begegnung, obwohl doch meine Gedanken laufend um ihn und Pater Limberg gekreist waren. Es war ein Gefühl, als würde ich einem Hirngespinst, einer Figur meiner Fantasie gegenübertreten.
    »Ich habe geschlafen«, sagte ich matt.
    »Das ist gut.«
    »Das würden Sie nicht
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