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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
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gebreitet. Etwas berührte mich an der Brust, dann am Bauch, ganz zart, als hätte sich eine Fliege unter meine Decke verirrt. Irgendwo weinte ein kleines Mädchen.
    Ich hob das Laken, bis ich an mir herabblicken konnte.
    Die Erscheinung kauerte auf allen vieren über meinen Beinen wie eine menschliche Spinne. Ihr Gesicht war ganz nah an meinem Bauch, ihr Haarschleier lag als dunkler Stern über meinen Oberkörper ausgebreitet.
    Ihre Zungenspitze zog einen kühlen Kreis um meinen Nabel.
    Ich konnte die Berührung hinter dem Haarschleier fühlen, sah wie ihr Kopf kreiste, tiefer wanderte, sich hob und senkte.
    Das Laken umgab uns wie ein Zelt, durch dessen Planen weißes Licht fiel. Ich hatte kein Verlangen zu erfahren, was außen war. Ich war der nackten Spinnenfrau auf meinem Unterleib willenlos ausgeliefert, ihrem Tasten und Necken, ihrem leidenschaftlichen Küssen und Züngeln und Streicheln.
    Als sie schließlich auf meinem Becken saß und ihre Bewegungen immer schneller, immer heftiger wurden, als ich die Augen schloß und mich ganz ihrem Rhythmus hingab, als das Weinen des kleinen Mädchens immer lauter und herzzerreißender wurde, als das Feuer des Höhepunkts bis in meine Haarspitzen emporfauchte und die Klammer ihrer Schenkel sich immer härter um meine Hüften schloß, da hörte ich plötzlich, wie das Laken zerriß. Trunken von ihrer Nähe schaute ich an ihrem makellosen Leib empor und sah, wie sie mit bloßen Händen das Tuch über ihrem Kopf auseinander zerrte. Die Ränder des Risses schwebten an ihrer glänzenden Haut herab, und als das Tuch hauchzart ihre Brüste streifte, ging ein letztes wildes Beben durch ihren Körper, sie riß die Arme gen Himmel, warf den Kopf zurück, und dann entstieg sie dem weißen Laken wie ein Neugeborenes dem Mutterleib.
    Das Weinen des Mädchens war plötzlich ganz nah und laut, umschloß uns wie ein Kokon, der sich mit jedem Herzschlag enger zusammenzog, sich an einem einzigen Punkt verdichtete, hoch über mir, bis das Weinen schließlich geradewegs aus dem aufgerissenen Mund der Erscheinung quoll.
    Worte lösten sich aus dem Chaos der Klänge, Worte, die flehten und verlangten, geformt aus Lachen und Weinen zugleich. Nichts, das sich wiedergeben ließe, nichts, das irgend jemand außer mir selbst verstehen würde.
    Doch ich verstand. Verstand mit einemmal alles.
    Die sieben Gesichter, die sich aus dem Dunkel näher schoben, waren die Schädel des Drachen.
    Der Drache selbst aber war ich.

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    25
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    Am Morgen wurde die Tür meines Zimmers aufgestoßen und herein kam der Abbé, ohne anzuklopfen, ohne einen Gruß. Die weißen Haarsträhnen auf seinem Kopf lagen noch wirrer als sonst und sein Gesicht war rot vor Aufregung. Ich nahm an, er hätte mit Limberg gesprochen und sich endgültig vom Haß des Paters anstecken lassen.
    Der Grund für seine Zerfahrenheit aber war ein anderer.
    »Der Regierungsrat ist abgereist!« rief er stürmisch. »Er und seine Lakaien sind bei Tagesanbruch in ihre Kutschen gestiegen und zurück nach Münster gefahren. Gott im Himmel, es ist unglaublich! Sie sind fort! Fort!«
    Ich kroch eilig zwischen zerwühlten, durchgeschwitzten Laken hervor. »Was ist mit Anna? Wie geht es ihr?«
    Freudestrahlend trat der Abbé an mein Bett und sah aus, als wollte er mich vor Glück umarmen. »Sie redet nur von Ihnen, mein Freund! Können Sie das glauben? Das erste, was sie zu mir sagte, war: ›Wie geht es dem Pilger?‹ Ich sollte eifersüchtig sein, wissen Sie das? Vielleicht wäre ich es, wenn ich nicht so erleichtert wäre.« Er lachte und hieb mit seinem Stock auf die Dielen. »Potzteufel, es geht ihr gut! Viel besser, als alle befürchtet haben.«
    »Wo ist sie jetzt? Noch im Stadthaus?«
    »Wesener läßt sie im Laufe des Vormittags zurück in ihre Kammer bringen.«
    »Das sind wirklich gute Nachrichten.«
    »Nicht wahr? Sie haben mich noch gar nicht gefragt, was den Regierungsrat dazu bewogen hat, so eilig von hier zu verschwinden.«
    »Ich glaube, ich weiß es bereits«, sagte ich leise und schaute am Abbé vorbei in eine entfernte Ecke des Zimmers, wo die Schatten so schwarz waren, daß sich darin jemand hätte verstecken können.
    »Sie wissen es?« Der Abbé musterte mich verwundert. Ich sah ihm an, daß er sich fragte, ob ich immer noch Fieber hatte.
    »Sie ist ihnen erschienen, nicht wahr?« flüsterte ich, um die Schatten nicht aufzuschrecken. »Die Männer haben die Mutter Gottes gesehen, drüben im Stadthaus, heute nacht. So war es
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