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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
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doch, oder?«
    Der Abbé bückte sich, griff unter mein Bett und zog die Branntweinflasche hervor, die ich dort nach meiner Ankunft versteckt hatte; er mußte sie entdeckt haben, während er an meinem Krankenlager wachte. Nachdem er einen tiefen Schluck daraus genommen hatte, schaute er mich eindringlich an. Ein sonderbarer Glanz lag in seinen Augen, gewiß nicht nur vom Alkohol.
    »Woher wissen Sie das?« fragte er langsam.
    »Würden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, daß ich dabei war?«

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    26

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    Meine zerschnittenen Fußsohlen schmerzten entsetzlich. Ich hatte das Innere der Stiefel mit Verbandszeug ausgelegt, doch das machte kaum einen Unterschied. Bei jedem Schritt hatte ich das Gefühl, als ginge ich über Rasierklingen. Die Krücke, die Wesener mir mitgebracht hatte, leistete gute Dienste; ohne sie hätte ich den Weg bis zu Annas Haus kaum bewältigen können.
    Gertrud ließ mich ein, machte aber keine Anstalten, mir die Treppe hinauf zu helfen. Wortlos ließ sie mich am Fuß der Stufen stehen und verschwand, um sich ihren zweifelhaften Pflichten zu widmen. Bald darauf hörte ich sie irgendwo in den Tiefen des Hauses rumoren.
    Der Weg nach oben war eine einzige Tortur. Ich hatte beide Hände voll – in der einen die Krücke, in der anderen das, was ich Anna zurückgeben wollte, etwas, das die ganze Zeit über ihr gehört hatte –, und so war es mehr als schwierig, auf der engen Wendeltreppe Halt zu finden. Ich wagte nicht, beide Füße zugleich zu belasten, aus Angst, der Schmerz könnte mir das Bewußtsein rauben. Ein schöner Triumph für Pater Limberg, wenn ich mir so kurz vor Annas Tür das Genick gebrochen hätte.
    Mir war übel, als ich endlich den oberen Treppenabsatz erreicht hatte. Vor meinen Augen drehten sich die Stufen und die Streben des Geländers. Längst fühlte ich meine Füße nicht mehr, nur zwei vage Wolken aus Pein, auf denen mein Körper zur Kammertür schwebte. Der Schmerz betäubt sich selbst, dachte ich erleichtert. Oder war das dem Fieber zu verdanken?
    Anna lag in ihrer Korbkrippe, sehr blaß und schmal. In ihren Augen aber leuchtete neuer Lebenswille. Die Verbände an Stirn und Händen waren weiß und unbefleckt. Das Fenster stand einen Spalt weit offen, davor saßen die beiden Lerchen und putzten sich.
    »Mir scheint, der Prinzessin geht es gut.« Ich deutete mit einem Kopfnicken auf die Vögel.
    Anna lächelte. »Man hat es ihr vielleicht nicht zugetraut, aber es sieht aus, als hätte sie sich gefangen.«
    »Ich bin sehr froh darüber.«
    Nachdenklich beobachtete sie die beiden Lerchen beim Gefiederputzen. »Können Sie die zwei eigentlich auseinanderhalten? Beides sind Weibchen, aber welche ist die Prinzessin? Die linke oder die rechte?«
    »Mir sind beide recht.«
    »Und wenn Sie sich für eine entscheiden müßten?«
    »Dann würde ich wohl eine Mischung aus beiden wählen.«
    »Glauben Sie denn, daß das möglich ist?«
    »Vielleicht kommt das nur auf den Versuch an.«
    »Vielleicht, ja.«
    Wir schauten uns schweigend in die Augen, sprachen lange kein Wort.
    Plötzlich fiel mir das Bündel in meiner Hand ein. Ich hatte es in braunes Papier eingeschlagen. »Das hier gehört Ihnen«, sagte ich und legte es vorsichtig aufs Bett.
    Sie warf nur einen flüchtigen Blick darauf. »Hat sie Ihnen das gegeben?«
    Ich hob die Schultern. »In gewisser Weise. Als hätte sie damit etwas unterstreichen wollen.«
    »Packen Sie es für mich aus?«
    Ich setzte mich auf den Hocker, langsam, weil das Stechen in meiner Lunge noch immer nicht gänzlich kuriert war. Ohne die Verpackung zu zerreißen, als wäre sie aus wertvollem Geschenkpapier, wickelte ich den Inhalt des Pakets aus und reichte ihn Anna.

    Zaghaft streckte sie die Hand nach der Puppe aus und streichelte zögernd über den winzigen Kopf.
    Ich beobachtete jede ihrer Regungen. »Das ist Ihr Haar, nicht wahr?«
    »Meine Mutter hat diese Puppe machen lassen. Sie hat mein langes Haar geliebt. Nachdem man mir beim Eintritt ins Kloster den Kopf geschoren hatte, sammelte sie alles auf und brachte es zu einem Puppenmacher.« Anna fuhr den schnurgeraden Mund des Stoffgesichts mit dem Zeigefinger nach, wollte auch die schwarzen Knopfaugen berühren, schrak aber in letzter Sekunde davor zurück. »Bitte, nehmen Sie sie weg. Ich war schon damals zu alt für Puppen.«
    Ich drehte das häßliche Spielzeug um und betrachtete die ausdruckslosen Züge. »Ihr Haar war wunderschön.«
    »Finden Sie?« Einen Moment lang klang sie
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