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Munzinger Pascha

Munzinger Pascha

Titel: Munzinger Pascha
Autoren: A Capus
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    An jenem Wintermorgen hing der Himmel voller Gleitschirmflieger und Ballonfahrer. Wie neonfarbene Geier kreisten sie über der Stadt, während unten im Morgenverkehr ein Bus sich über die City-Kreuzung quälte. Auf der hintersten Plattform stand ein schlaksiger junger Mann und warf gallige Blicke hinauf zu den vergnügungssüchtigen Himmelsstürmern. ›Die Idioten lernen fliegen‹, dachte er. ›Bald fliegen alle Idioten am Himmel herum. Dann sehen wir die Sonne nie mehr.‹ Der neidische junge Mann war ich.
    »Ah, unser Max Mohn!« hatte mich der Chef zehn Minuten zuvor angebrüllt, als ich in die Redaktion der ›Oltner Nachrichten‹ kam. »Tut mir leid, daß ich deine Arbeitskraft zu solch früher Morgenstunde in Anspruch nehmen muß, hehe!«
    Ich murmelte einen Morgengruß.
    ». . . sozusagen mitten in der Nacht, hehe, dazu noch an einem Montag! Du mußt auf die Piste. Jetzt gleich, sofort. Portrait schreiben. Du bist angemeldet.«
    »Bei wem?«
    »Dieter Zingg.«
    »Dem Kunstmaler? Der war doch erst letzte Woche im Blatt!«
    »Schon. Aber jetzt will er in die Politik, kandidiert für den Ständerat. Da müssen wir ein Portrait bringen. Hundertachtzig Zeilen, ja? Sei so gut, bitte.«
    |12| Während der Bus stadtauswärts ruckelte, öffnete ich die Archivmappe, die mir der Chef mitgegeben hatte. Sie enthielt Zeitungsartikel über den Kunstmaler Dieter Zingg: fünfundvierzig Jahre alt, Bezirksschullehrer im Hauptberuf, Förder- und Anerkennungspreise hier und da und dort, wurde Anfang der achtziger Jahre den Jungen Wilden zugerechnet und als eine der vielversprechendsten schöpferischen Kräfte im Land gehandelt. Wurde   – Donnerwetter!   – zu Gruppenausstellungen in Tokio und London eingeladen. Durfte drei Monate im Atelier einer Kulturstiftung in New York arbeiten. Donnerwetter, Donnerwetter.
    Meine Haltestelle hieß Mühlebach, obwohl es hier längst keine Mühle und keinen Bach mehr gab. Ein paar hundert Meter abseits der Hauptstraße begann das Einfamilienhausquartier, in dem Zinggs Haus stand. Er wohnte, wo alle Lehrer wohnen: in einem Einfamilienhaus am Jurasüdfuß. Nicht ganz hoch oben, wo’s richtig teuer wird (ab 700   m ü. M.), aber auch nicht unten, wo die billigeren Häuschen stehen (530   m ü. M.), und schon gar nicht zuunterst in der Ebene an der Bahnlinie Zürich   – Genf (420   m ü. M.), wo die Türken und Jugoslawen in speckigen Wohnblocks leben. Mit meinem in langen Jahren als Lokalreporter erworbenen Sozial-Höhenmesser hatte ich Zinggs Domizil rasch geortet: Es lag auf 613   Metern und war bis zum hintersten Kellerfenster dreifachverglast. Davor stand links ein Schneemann mit Karottennase, Kohleaugen, Wollmütze und Reisigbesen. Rechts lag tief eingeschneit und zugefroren ein Weiher, an dessen Ufer ein wohldosiertes Bündel Schilf aus |13| dem Schnee ragte. Zweifellos quakten dort im Sommer die Frösche und blühten allerlei lehrreiche Pflanzen.
    Ich öffnete das schmiedeeiserne Gartentor und ließ es hinter mir sachte ins Schloß fallen. Ein makellos schneefreier Plattenweg führte zu einer Buchenholztür. Daneben hing eine rostige Kette mit rustikalem Holzgriff. Als ich daran zog, ertönte drinnen das Bimmeln eines Ziegenglöckleins. Die Tür ging auf, und vor mir stand eine alterslose Frau mit im Nacken zusammengebundenen Haaren und wäßrigen Augen.
    »Guten Tag, mein Name ist Mohn. Max Mohn, von den ›Oltner Nachrichten‹. Ich bin mit Herrn Zingg verabredet.«
    Die Frau wischte ihre mehlbestäubten Hände an der Küchenschürze ab. »Bitte kommen Sie herein.«
    Ich machte zwei Schritte ins Hausinnere, dann sagte die Frau: »Würden Sie bitte die Schuhe ausziehen? Wir halten das hier so. Der Schmutz und der Schnee, verstehen Sie?«
    Ich stellte meine Schuhe neben eine Reihe von kleinen und noch kleineren Gummistiefeln mit aufgedruckten Mickymausfiguren, stieg vorsichtig über eine Spielzeuglokomotive aus Naturholz und folgte der Frau in die Wohnküche. Dort gab eine Glasfront den Blick frei auf den Weiher und den Schneemann. An schönen Tagen mußte die Küche sonnendurchflutet sein. Es duftete nach selbstgebackenem Brot. Überall stand und hing blitzsauberes Bauerngeschirr. An einem alten Eichentisch in der Mitte des Raums thronte Dieter Zingg und las die ›Oltner Nachrichten‹. Er trug ein blaues Bauernhemd mit aufgestickten Enzianen, einen |14| gepflegten Kranzbart und eine runde Nickelbrille. Links und rechts von ihm saßen drei rotbackige Mädchen, das
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