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Knochenjagd (German Edition)

Knochenjagd (German Edition)

Titel: Knochenjagd (German Edition)
Autoren: Kathy Reichs
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1
    Die Augen des Babys verblüfften mich. So rund und weiß und so pulsierend vor Bewegung.
    Wie der winzige Mund und die Nasenöffnungen.
    Ich ignorierte die Madenmassen, schob zwei behandschuhte Finger unter den kleinen Torso und zog sanft eine Schulter nach oben. Kinn und Glieder fest an die Brust gepresst, hob sich das Baby ein wenig.
    Mit protestierendem Gesumme stoben Fliegen davon.
    Ich prägte mir die Details ein. Zarte Augenbrauen, kaum zu erkennen auf einem Gesicht, das nur schwer als menschlich zu identifizieren war. Aufgeblähter Bauch. Durchscheinende Haut, die sich von perfekten, kleinen Fingern ablöste. Unter Kopf und Hintern lagen Pfützen von einer grün-braunen Flüssigkeit.
    Das Baby steckte im Toilettentisch eines Badezimmers, eingeklemmt zwischen der Rückwand und einem verrosteten Abflussrohr, das gekrümmt vom Waschbecken herabführte. Es lag in fötaler Haltung, den Kopf verdreht, das Kinn nach oben ragend.
    Es war ein Mädchen. Glänzend grüne Geschosse umschwirrten seinen Körper und alles in seiner Umgebung.
    Einen Augenblick lang konnte ich es nur anstarren.
    Die wabernd weißen Augen starrten zurück, wie verwirrt über die verzweifelte Notlage ihrer Besitzerin.
    Meine Gedanken wanderten zu den letzten Augenblicken des Babys. War es bereits im dunklen Leib der Mutter gestorben, als Opfer einer herzlosen Verdrehung der Doppelhelix? Oder im Kampf ums Überleben, an die schluchzende Brust ihrer Mutter gedrückt? Oder kalt und allein, im Stich gelassen und unfähig, sich Gehör zu verschaffen?
    Wie lange dauert es, bis ein Neugeborenes das Leben aufgibt?
    Ein Sturzbach der Bilder rauschte durch mein Gehirn. Keuchender Mund. Zappelnde Glieder. Zitternde Händchen.
    Zorn und Trauer ballten sich in meinen Eingeweiden zusammen.
    Konzentrier dich, Brennan!
    Behutsam legte ich die winzige Leiche wieder auf ihren Platz zurück und holte einmal tief Luft. Meine Knie knackten, als ich mich aufrichtete und ein Spiralnotizbuch aus meinem Rucksack zog.
    Fakten. Konzentrier dich auf die Fakten.
    Auf dem Toilettentisch lagen ein Seifenriegel, ein schmuddeliger Plastikbecher, ein stark angeschlagener Zahnbürstenhalter aus Keramik und eine tote Kakerlake. Das Medizinschränkchen enthielt eine Aspirinflasche mit zwei Tabletten, Wattestäbchen, Nasenspray, Tabletten gegen Verstopfung, Rasierklingen und eine Packung Hühneraugenpflaster. Kein einziges verschreibungspflichtiges Medikament.
    Warme Luft, die durch das geöffnete Fenster wehte, ließ das neben der Kommode hängende Toilettenpapier flattern. Mein Blick bewegte sich in diese Richtung. Auf dem Spülkasten stand eine Schachtel mit Papiertüchern. In der Schüssel selbst war ein schleimiges, braunes Oval zu erkennen.
    Ich ließ den Blick nach links wandern.
    Schlaffe Stoffbahnen hingen am abblätternden Fensterrahmen, ein längst grau gewordener Blumendruck. Die Aussicht durch die schmutzverkrustete Scheibe zeigte eine Petro-Canada-Tankstelle und die Rückseite einer Autowerkstatt.
    Seit ich die Wohnung betreten hatte, hatte mein Hirn immer wieder das Wort »gelb« gemeldet. Der schlammverspritzte Stuck auf der Fassade des Gebäudes? Die triste Senffarbe im Treppenhaus? Der abgenutzte maisfarbene Teppich?
    Was auch immer. Die grauen Zellen säuselten weiter. Gelb.
    Ich fächelte mir mit dem Notizbuch Luft zu. Schon jetzt waren meine Haare feucht.
    Es war neun Uhr vormittags am Montag, den vierten Juni. Um sieben war ich von einem Anruf von Pierre LaManche geweckt worden, dem Chef der rechtsmedizinischen Abteilung des Laboratoire de sciences judiciaires et de médecine légale in Montreal. LaManche war von Jean-Claude Hubert aus dem Bett geholt worden, dem Chief Coroner der Provinz Quebec. Huberts Weckruf war von einem Beamten der SQ mit dem Namen Louis Bédard gekommen.
    Laut LaManche hatte Caporal Bédard das Folgende berichtet:
    Etwa gegen zwei Uhr vierzig morgens am Sonntag, den dritten Juni, hatte sich eine siebendundzwanzigjährige Frau namens Amy Roberts im Hôpital Honoré-Mercier vorgestellt und über exzessive Vaginalblutungen geklagt. Dem diensthabenden Notarzt Dr. Arash Kutchemeshgi fiel auf, dass Roberts desorientiert wirkte. Da er Reste der Plazenta und eine Vergrößerung des Uterus feststellte, vermutete er, dass die Frau vor Kurzem entbunden hatte. Als er sie nach einer Schwangerschaft, Geburtswehen oder einem Baby fragte, antwortete Roberts ausweichend. Sie hatte keine Ausweispapiere bei sich. Kutchemeshgi beschloss, das örtliche
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