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Meine kaukasische Schwiegermutter

Meine kaukasische Schwiegermutter

Titel: Meine kaukasische Schwiegermutter
Autoren: Wladimir Kaminer
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Im Juli hatte meine Schwiegermutter Geburtstag. Siebenundsechzig Jahre ist sie geworden. Sie wohnt im Nordkaukasus auf einer ehemaligen Rinderfarm, auf der es aber schon seit Jahren keine Rinder mehr gibt. Hier haben sich Kosaken aus Tschetschenien eingenistet, die 1992 aus Grosny geflüchtet waren, als dort der tschetschenische Aufstand ausbrach. Kosakenfamilien halten traditionell eng zusammen, und so hatten sie in kürzester Zeit auf dem verlassenen Farmgelände Häuser gebaut, die Wasserleitungen repariert und sogar Strom von der nahegelegenen Eisenbahnlinie abgezweigt. Sie pflanzten Tomaten, Kartoffeln und Wassermelonen an und besorgten sich Hühner sowie ein paar Schweine. Mittlerweile leben die Grosnyer Kosaken im Nordkaukasus wie die Götter in Frankreich. Die einheimischen Säufer im Dorf nebenan sind blass vor Neid. Sie hatten nie eine funktionierende Wasserleitung und Strom sowieso nicht. Deswegen nennen sie die Kosakensiedlung jetzt »Judenfarm«.
    Meine Schwiegermutter ist Witwe, ihr Mann war noch in Grosny an Herzversagen gestorben. Aber auch allein kommt sie gut mit ihrem Riesengarten zurecht. Im Winter, wenn sie nichts zu tun hat, fährt sie nach Berlin, um uns und ihre Enkel zu besuchen. Im Sommer schuftet sie jeden Tag von früh bis spät auf ihrem Grundstück. Deswegen hatten wir bisher noch nie Gelegenheit, ihren Geburtstag zusammen zu feiern. Doch dieses Jahr hat sie eine Ausnahme gemacht.
    »Ich pfeif’ auf die Tomaten«, sagte sie sich, »und auf die Kartoffeln ebenso, man lebt schließlich nur einmal.«
    Also kam meine Schwiegermutter im Juni nach Deutschland. Zu ihrem Geburtstag kochte sie viele leckere Sachen. Wir tranken selbst gemachten Wein, den sie mitgebracht hatte, und sangen bei uns in der Küche Kosakenlieder. Der Wein aus dem Nordkaukasus ist ein besonderes Getränk – durchsichtig wie Wasser und stark wie Wodka. Man bekommt von ihm schnell weiche Knie, behält aber einen klaren Kopf.
    Meine Schwiegermutter hat eine wunderbare Stimme, aus ihr hätte eine tolle Sängerin werden können. Aber in Grosny gab es solche Ausbildungsstätten nicht, nur ein Öl- und Gas-Institut. Deswegen ist sie Geologin geworden. An ihrem Geburtstag liefen im Rundfunk den ganzen Tag Stücke von den Rolling Stones. Das war kein Zufall. Mick Jagger hat nämlich am selben Tag wie meine Schwiegermutter Geburtstag. Genau wie sie wurde er am 26. Juli 1943 geboren – ich war erstaunt: Der alte Sack kam tatsächlich zusammen mit meiner Schwiegermutter zur Welt, sie in Grosny, er in Dartford. Und beide singen gern. Das ist ganz sicher kein Zufall. Die moderne Wissenschaft behauptet ja sowieso: Es gibt keine Zufälle. Alles, was mit uns geschieht, hat einen tieferen Sinn. Vielleicht bin ich da einer neuen Theorie auf die Schliche gekommen, die uns das Geheimnis ewiger Jugend erklärt?
    Meine Schwiegermutter und Mick Jagger – die beiden haben vielleicht noch viel mehr Gemeinsamkeiten. Ich schlug die Autobiographie von Mick Jagger auf, um mehr über ihn zu erfahren: Er ging zur Schule – meine Schwiegermutter auch. Für Musik interessierte sich Mick Jagger lange Zeit nicht, Elvis Presley und Little Richard ließen ihn kalt. Nur ein Konzert von Buddy Holly im Jahr 1958 erregte seine Aufmerksamkeit. Meine Schwiegermutter weiß bis heute nicht, wer das ist. Mick trieb gern Sport, er spielte Basketball. Als meine Schwiegermutter zur Schule ging, war die angesagteste Sportart in Grosny das Schweinereiten. Alle Kinder veranstalteten nach der Schule Schweine-Rodeos. Wer sich auf dem Rücken eines Schweins halten und auf ihm die Straße überqueren konnte, hatte gewonnen. Bei diesen Wettbewerben war meine Schwiegermutter nicht die Schlechteste. Obwohl eher klein, hielt sie sich dabei an den Ohren der Tiere fest.
    Für Musik interessierte sie sich damals nicht, stattdessen ging sie mit ihren Freundinnen gerne in das einzige Eiscafé der Stadt, Café Minütchen auf dem Platz des Sieges in Grosny. In Dartford gab es eine solche Einrichtung anscheinend nicht, deswegen hing Mick Jagger mit seinem Kumpel Keith Richard immer am Dartforder Bahnhof herum, wie man seiner Autobiographie entnehmen kann. Er träumte damals noch nicht von einer Karriere als Musiker, ebenso wenig wie meine Schwiegermutter. Als Mick mit der Schule fertig war, studierte er an der London School of Economics. Jeden Tag fuhr er mit dem Zug zu seinen Vorlesungen, meine Schwiegermutter ging dagegen zu Fuß zu ihrem Öl- und Gas-Institut. Etwa 1961 fingen
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