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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten
Autoren: Colin Dexter
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    Matt schüttelte Pfarrer Lionel Lawson die letzte
behandschuhte Rechte, die schmal und schlank war und Mrs. Emily Walsh-Atkins
gehörte. Jetzt, wußte er, war das Gestühl der alten Kirche hinter ihm leer. Es
war immer dasselbe Lied. Während die anderen Damen, allesamt schick in Schale,
die Köpfe zusammensteckten, um über Gartenfeste und Sommerhüte zu plaudern,
während der Organist sein Nachspiel auf der Orgel anstimmte und die Chorknaben,
ihrer Soutanen ledig, die T-Shirts in die Jeans steckten, verharrte Mrs.
Walsh-Atkins unweigerlich noch einige Minuten auf den Knien — eine leicht
übertriebene Demutsgeste gegenüber dem Allmächtigen, wie Lawson zuweilen
dachte. Doch da war eine Menge, wofür sie dankbar sein konnte. Sie war
einundachtzig, doch geistig und körperlich noch beneidenswert rege. Nur ihr
Augenlicht hatte sich in letzter Zeit verschlechtert. Sie wohnte in Nord-Oxford
in einem Heim für alte Damen aus gutem Hause, das ein hoher Zaun und eine
Fichtenpflanzung vor neugierigen Blicken abschirmte. Hier sah sie vom Fenster
ihres Wohnzimmers aus, in dem es nach welkem Lavendel und Silberputzmittel
duftete, auf die gepflegten Wege und Rasenflächen, von denen allmorgendlich der
Hausmeister unauffällig die Coca-Cola-Dosen, Milchflaschen oder leeren
Kartoffelchips-Tüten auflas. Hinterlassenschaft jener seltsamen, unbegreiflich
sittenlosen jungen Leute, die in Mrs. Walsh-Atkins Augen eigentlich kein Recht
hatten, frei herumzulaufen — und schon gar nicht in ihrem geliebten
Nord-Oxford. Das Heim war entsetzlich teuer, aber Mrs. Walsh-Atkins war eine
reiche Frau, und jeden Sonntag enthielt ihr sorgsam zugeklebter brauner
Umschlag, den sie behutsam auf den Kollekteteller legte, eine gefaltete
Fünf-Pfund-Note.
    «Haben Sie Dank für Ihre Botschaft, Herr
Pfarrer.»
    «Gott segne Sie.»
    Dieser kurze Dialog, der sich in den zehn
Jahren, seit Lawson die Pfarrstelle in der Gemeinde von St. Frideswide’s
übernommen hatte, stets wortwörtlich wiederholte, war die letzte Stufe der
Nichtkommunikation zwischen Pfarrer und Gemeindemitglied. In den ersten Wochen
seiner Amtszeit hatte Lawson die Sache mit der «Botschaft» einiges Unbehagen
bereitet, wußte er doch nur zu gut, daß seine Predigt an keiner Stelle von
besonderem evangelistischem Feuer durchglüht war. Im übrigen mußte sich ein
Geistlicher wie Lawson, ein gemäßigter Anhänger der anglikanischen Hochkirche,
in der Rolle eines vom lieben Gott eingesetzten Telegrafenboten fehl am Platz,
ja, ausgesprochen unwohl fühlen. Doch anscheinend vernahm Mrs. Walsh-Atkins das
Summen der himmlischen Drähte, wie immer sein Predigttext auch lauten mochte,
und brachte jeden Sonntag neu dem ahnungslosen Künder froher Kunde ihre
Dankbarkeit zum Ausdruck. Es war purer Zufall, daß Lawson nach dem ersten
Gottesdienst auf diese viersilbig-schlichte Antwort verfallen war, drei
magische Worte, die Mrs. Walsh-Atkins zusammen mit ihrem Gebetbuch auch an
diesem Sonntag wieder glücklich an den Busen drückte, während sie in gewohnt flotter
Gangart der St. Giles Street zustrebte, wo ihr gewohnter Taxifahrer in der
Parkbucht am Martyrs’ Memorial schon auf sie wartete.
    Der Pfarrer von St. Frideswide’s sah nach rechts
und nach links die heiße Straße hinunter. Hier hielt ihn nichts mehr, aber er
zögerte sichtlich, den verschatteten Kirchenraum wieder zu betreten. Eine
kleine Gruppe japanischer Touristen kam auf der anderen Straßenseite vorbei.
Ihr kleiner, bebrillter Führer zählte in winselndem Stakkato die
Sehenswürdigkeiten der alten Stadt auf. Seine Singsangsilben waren noch
vernehmbar, während die kleine Gruppe sich an dem Kino vorbei entfernte, das
dem verehrten Publikum stolz die Chance offerierte, die Intimitäten eines
Frauentauschs à la française mitzuerleben. Doch in Lawson regte sich kein
Hauch von Sinnlichkeit, seine Gedanken waren anderweitig in Anspruch genommen.
Sorgsam nahm er den Talarüberwurf mit dem weißen Seidenfutter (M. A. Cantab.)
von den Schultern und sah zur Carfax hinüber, wo die Tür zur Bar des Ox schon offen stand. Doch Gasthäuser hatten seit jeher wenig Reiz für ihn. Gewiß,
bei der einen oder anderen Gemeindeveranstaltung trank auch er sein Glas süßen
Sherry, doch falls Lawsons Seele sich irgendeiner Sünde wegen zu verantworten
hatte, wenn der Engel des Jüngsten Gerichts in seine Posaune stieß, dann gewiß
nicht wegen der Sünde der Trunksucht. Ohne das sauber gescheitelte Haar
durcheinanderzubringen, zog er das
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