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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
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bereiten.
    »Ich habe Sie erwartet, Pilger«, sagte Schwester Anna leise.
    Das Tiefblau ihrer Augen sog meinen Blick auf wie zwei Meeresstrudel.
    »Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.«
    »Nein.« Sie schluckte schwer und rang einen Augenblick um Atem. »Ich habe Jahre auf Ihren Besuch gewartet.«
    Ich warf Wesener einen verwirrten Blick zu, aber er beachtete mich nicht. Seine Augen waren fest auf seine Patientin gerichtet.
    »Wie darf ich das verstehen?« fragte ich sie.
    »Ich habe Sie schon gekannt, ehe Sie zur Tür hereinkamen.
    Schon oft habe ich einen Mann wie Sie vor mir gesehen, mit dunkler Gesichtsfarbe, mit Feder und Papier. Als Sie gerade in meine Stube traten, da dachte ich: Ah, da ist er ja.«
    Das Sprechen schien sie nicht gar zu sehr anzustrengen. Ich erinnerte mich an Weseners Worte: Sie scheint lebhaft, aber damit überspielt sie nur ihr Leiden.
    »Mein Bruder hat nach seinem Besuch nur noch von Ihnen gesprochen«, sagte ich, um das Thema zu wechseln.
    »Dann war er in Gedanken beim Herrn, das ist gut.«
    »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht. Warten Sie einen Moment, ich habe es draußen, in der Tasche…«
    »Ich werde Ihnen nicht fortlaufen, keine Sorge«, bemerkte sie spitz, aber ihr Gesicht war voller Güte.
    Das zweite Mißgeschick. Wunderbar. »Ich bin gleich wieder bei Ihnen.«
    Bald kehrte ich mit dem Bündel Äpfel zurück, das ich beim letzten Halt der Postkutsche gekauft hatte. Wesener runzelte die Stirn, und Anna schaute nur mich an, nicht das Obst.
    »Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte sie leise.
    Ein wenig unsicher geworden, legte ich die Äpfel auf die Gebetbank. »Vielleicht mögen Sie später einen.«
    »Das Fräulein Emmerick nimmt keine Nahrung zu sich«, unterbrach mich Wesener.
    Ich blickte irritiert von ihm zu der Kranken in ihrem Korbbett.
    Der Doktor wollte fortfahren, doch Anna kam ihm zuvor.
    »Die gesegnete Hostie spendet mir alle Kraft, die ich brauche.
    Pater Limberg bringt sie mir einmal am Tag, dazu frisches Brunnenwasser. Das ist alles, was ich benötige.«
    »Sie essen nicht? Sie meinen, nie?« Christian mußte gewußt haben, warum er mir das verschwiegen hatte; ich hätte ihm danach kein Wort mehr geglaubt.
    »Niemals«, bestätigte sie.
    Hilflos schaute ich zu Wesener hinüber. Er nickte stumm.
    »Das ist nicht Ihr Ernst«, entfuhr es mir erheitert.
    Annas Mundwinkel zuckten, doch ein weiteres Lächeln wurde nicht daraus. »Sehe ich aus, als ob ich Scherze mache?«
    »Wie lange geht das schon so?«
    »Seit meiner Kindheit. Seit mir zum ersten Mal mein Schutzengel erschienen ist.«
    »Wie können Sie erwarten, daß ich Ihnen das glaube?«
    »Sie glauben nicht an Gott. Wie sollte ich da erwarten können, daß Sie an mich glauben?«
    Wesener hatte keine Gelegenheit gehabt, ihr von meinen Zweifeln zu erzählen. Vielleicht hatte sie nur geraten.
    Der Doktor blickte mich scharf an. »Es ist besser, wenn Sie jetzt gehen und morgen nachmittag…«
    »Nein«, fiel Anna ihm ins Wort.
    »Es ist nicht gut, wenn Sie sich aufregen«, ermahnte er sie.
    Sie lächelte traurig. Dabei fiel mir zum ersten Mal auf, wie hübsch die Trauer sie machte. Viele Menschen werden schön, wenn sie lachen; bei Anna war es umgekehrt. Ihre Melancholie legte sich wie eine Glasur über ihre Züge.

    »Bitte, Pilger, bleiben Sie. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
    Wesener machte einen Schritt nach vorne und blieb zwischen uns stehen. Er ahnte wohl, was sie vorhatte. »Ich muß protestieren. Es hat keinen Sinn, ihm…«
    »Helfen Sie mir«, sagte sie, ohne seinem Einwand Beachtung zu schenken. Mit einem Augenaufschlag, dessen Koketterie zweifellos unbeabsichtigt war, fügte sie drängender hinzu:
    »Bitte!«
    »Als Ihr Arzt rate ich ab.«
    »Als Ihre Patientin danke ich Ihnen für Ihre Sorge. Und jetzt, bitte, die Decke…«
    Wesener schenkte mir einen vernichtenden Blick, dann schlug er langsam die Bettdecke der Kranken zurück. Ich erschrak, als ich sah, wie mager sie war. Scharf umrissen hoben sich ihre Glieder unter dem weißen Stoff des Nachthemds ab, die Rippen waren deutlich zu erkennen. Mir war unwohl, und ich kam mir auf unerklärliche Weise schuldig vor, als ich an ihrem schmalen Leib herabblickte, bis zu ihren zarten Kinderfüßen. Beide waren mit Binden umwickelt.
    »Nehmen Sie die Verbände ab«, bat sie den Doktor.
    »Einer muß genügen.«
    »Wenn Sie meinen.« Sie klang nicht resigniert, eher als wollte sie ihm einen Gefallen tun.
    Bald darauf lag ihr rechter Fuß frei. Die inneren
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