Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das geheime Leben des László Graf Dracula

Das geheime Leben des László Graf Dracula

Titel: Das geheime Leben des László Graf Dracula
Autoren: Roderick Anscombe
Vom Netzwerk:
mit größerem Vertrauen und sogar mit Neugier an. Ich saß direkt vor ihr. Als ihr Blick auf mich fiel und über mich hinwegglitt, zu dem Burschen neben mir, wurde ich von dem gleichen prickelnden, schwankenden, erregenden Gefühl erfaßt wie vorher, als ich gezögert hatte, meine Frage zu stellen. Jetzt erinnerte ich mich daran, warum es mir so vertraut vorkam. An einem Nachmittag im Winter, als das Licht schon verblaßte, war ich auf unserem Besitz auf der Jagd.
    Ich wartete in einem Dickicht, als eine Damhirschkuh auf die Lichtung trat. Sie hob den Kopf und schnüffelte in der Luft und sah sich um, aber sie konnte mich nicht wittern. Trotzdem begann sie nicht zu grasen. Sie spürte die Gefahr ganz in der Nähe. Ich beobachtete sie, während sie die Stelle musterte, an der ich kauerte. Und genauso glitt jetzt Stacias Blick über mich hinweg, ohne mich zu sehen.

    21.MAI 1866

    Heute schien Ducasse, der bis zu Charcots Vorlesung keine Zeit für mich gehabt hatte, ganz versessen darauf, mir Arbeit zuzuweisen.
    »Wir müssen ein paar Fälle für Sie finden, die Sie aufarbeiten können«, sagte er zu mir.
    Endlich wird man mir erlauben, an den Aktivitäten des Salpêtrière teilzuhaben. Das Hôpital ist anders als alle Krankenhäuser, die ich bisher gesehen habe. Es ist eher wie eine kleine Stadt, gar nicht wie ein Hospital, mit sich kreuzenden Straßen, einer der ältesten Kirchen von Paris, einer Wäscherei, einem Saal, in dem an den Samstagabenden eine Tanzveranstaltung für die Patienten abgehalten wird, und großen Gärten. Das Ganze ist von einer Mauer umgeben, so daß die Gemeinschaft in sich geschlossen ist. Seit Jahrhunderten war es das Armenhaus für ältere Frauen, Bettler, Prostituierte und Verrückte gewesen. Es ist nicht ganz klar, ob Charcot zur Strafe in das Salpêtrière geschickt wurde oder ob er die Ernennung auf diesen Posten selbst als eine günstige Gelegenheit angesehen hat, jedenfalls hat er aus ganz Europa Ärzte angezogen, die hierherkommen, um seine Praktiken zu erlernen.
    Ich bin froh, daß ich dem Hauptgebäude zugeordnet bin, denn hier hat Charcot eine besondere Station für auserwählte Patienten wie Stacia, die außergewöhnliche Symptome zeigen und zu ungewöhnlichen Akten des Somnambulismus fähig sind, auf den der Meister seit neuestem seine Forschungen konzentriert. Die besondere Abteilung liegt im ersten Stock, während ich im zweiten arbeiten soll, mir die älteren Frauen vornehmen soll, die noch nie gründlich untersucht worden sind. Obwohl ich erst wenige Tage hier bin, ist mir klar, daß die Frauen von der besonderen Station eine eigene Kaste bilden. Die meisten von ihnen sind jung, und so würde es nicht schwerfallen, unter ihnen einige zu finden, die auf eine direkte Art sehr attraktiv sind. Die schlafwandelnden Damen sind verwöhnte Wesen, und das wissen sie auch. Sie dürfen ihre eigenen Kleider tragen und sich auf dem Gelände des Hôpitals frei bewegen. Sie brauchen nichts zu den alltäglichen Notwendigkeiten des Lebens beizutragen, und Charcot räumt ihnen auch alle möglichen besonderen Privilegien ein. Ich begegne ihnen, wann immer ich komme und gehe, denn sie hängen an der Treppe herum und taxieren jeden, der sich durch ihre Mitte drängt, genauestens. Ich glaube, daß sie sich langweilen, und nach dem Geflüster und den Gesprächsfetzen zu urteilen, die ich aufgefangen habe, vertreiben sie sich die Zeit mit Klatsch und Intrigen.

    Es ist spät, aber wenigstens habe ich jetzt ein festes Dach über dem Kopf, wohin ich mich zurückziehen kann. Mein Nebenmann im amphithéâtre, den ich zuerst für recht mürrisch und desinteressiert gehalten hatte, stellte sich mir nach der Vorlesung als Roland Vernier vor. In Wirklichkeit ist er ein übersättigter und zynischer Kerl. Er bewegt sich langsam, fast zögernd, und mit seinem runden Gesicht, den vollen Lippen und den schattigen Augen wirkt er phlegmatisch, aber dieser Eindruck ist falsch, denn er besitzt einen lebhaften, schnellen Verstand, und manchmal gestattet er sich ein Zwinkern mit den Augen, um anzudeuten, daß man das, was er sagt, nicht allzu ernst nehmen sollte.
    Ich erzählte Roland, daß ich erst in dieser Woche aus Budapest gekommen und in einem Hotel in der Nähe des Gare d'Austerlitz abgestiegen sei. Er sagte, ihm wäre eine Situation bekannt, die sich für mich als vorteilhaft erweisen könnte.
    Nach meiner Ankunft war meine erste Sorge, eine billigere Unterkunft zu finden. Ich ging von einem Stadtteil zum
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher