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Das geheime Leben des László Graf Dracula

Das geheime Leben des László Graf Dracula

Titel: Das geheime Leben des László Graf Dracula
Autoren: Roderick Anscombe
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Roderick Anscombe

    Das geheime Leben
    des László Graf Dracula

    ROMAN

    Deutsch von Charlotte Franke
    und Sabine Lobmann

    Die Originalausgabe erschien 1994
    unter dem Titel »The Secret Life of László Count Dracula«
    bei Hyperion, New York

    1. Auflage
    Copyright © 1994 Roderick Anscombe
    Published by arrangement with Hyperion
    Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1995 bei C. Bertelsmann Verlag GmbH, Miinchen
    Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin Druck und Bindung: Wiener Verlag
    Printed in Austria
    ISBN 3-570-11197-6

    I

    18.MAI 1866

    ch weiß, es sollte ein Vorwort geben. Irgendeine Erklärung. Aber ich kann Inicht warten. Paris ist alles, was ich mir erhofft habe – großartiger und inspirierender als meine kindlichen Träume –, und ich werde meine Eindrücke noch diese Woche niederschreiben. Aber erst muß ich die ungewöhnliche Szene zu Papier bringen, der ich gerade beigewohnt habe.
    Wie ich in dem Brief, mit dem meine Bewerbung angenommen wurde, aufgefordert war, habe ich mich gestern ins Hôpital Salpêtrière begeben und den ganzen Tag darauf gewartet, daß mir der Registratur Fälle zuweist. Aber nichts dergleichen. Vielmehr schien sich Dr. Ducasse meiner Existenz gar nicht bewußt zu sein und beschied mich barsch, zu warten, als ich ihn ansprach.
    Freitag ist natürlich der Tag des Meisters, und so ging ich an diesem Morgen frühzeitig in das amphithéâtre, den großen Vorlesesaal, um mir einen ersten Eindruck von Professor Charcot zu machen. Von den anderen Ärzten waren noch nicht viele eingetroffen, um seiner Demonstration beizuwohnen, und so konnte ich mir einen ausgezeichneten Platz in der zweiten Reihe sichern.
    Hinter und über mir füllten sich schon bald die Ränge. Ich drehte mich um und sah in die Runde – nicht daß ich erwartet hätte, in dieser eleganten Menschenmenge jemanden zu kennen. Trotzdem suchte ich die Reihen nach einem freundlichen Gesicht ab, um später vielleicht ein Gespräch anfangen zu können, denn ehrlich gesagt habe ich mich seit meiner Ankunft in dieser Stadt ein wenig einsam gefühlt, vor allem auch, weil mir Tante Sophie nicht geantwortet hat. Der Mann neben ihr war in eine Abhandlung über Hysterie versunken, und ich zögerte, ihn zu stören. Um mich herum posierten Männer auf eine höchst stutzerhafte Art, sprachen in einem affektierten Ton miteinander oder riefen sich von einem Ende des Saales zum anderen etwas zu, und ich hatte den Eindruck, daß sie sich nur aufspielen wollten, als ginge es jedem von ihnen nur darum, von allen anderen bemerkt zu werden. Ich vermißte die ungekünstelte Art, mit der die Studenten in Budapest auf die Vorlesungen warteten, aber vermutlich würde diese Impulsivität in Paris als hoffnungslos provinziell gelten.

    Wie ich mich so umsah und zu dem hohen domartigen Deckengewölbe hinaufstarrte, durch das Fenster hinaus in den Garten, zu dem Lesepult auf dem Podium vorn und zu der Krankenbahre, die, von einem Tuch verhüllt, an der Seite stand, blickte der junge Mann neben mir von seinem Buch auf und deutete mit einer ruckartigen Kopfbewegung auf die Menschenmenge hinter uns.
    »Verdammter Zirkus«, sagte er abfällig.
    Da ich zu diesem Anlaß von so weit her gekommen war, ärgerte mich seine Bemerkung. »Ich nehme an, das ist die gespannte Erwartung«, sagte ich. »Jeder hofft, das Neueste von Charcot zu erfahren.«
    »Die Hälfte von denen sind nicht einmal Ärzte«, erwiderte er.
    Wieder sah ich mich im Saal um. Ganz vorn saßen mehrere Klinikärzte in langen weißen Schürzen, die von der Hüfte bis zu den Knöcheln reichten, aber weiter hinten waren es Leute mit den typischen Künstlerkappen auf dem Kopf; andere trugen modische Kleidung und kesse Hüte.
    »Dichter, Journalisten, Philosophieprofessoren – tout Paris«, sagte er.
    »Bestimmt alles Studenten des Geistes?« warf ich ein.
    »Müßiggänger«, schnaubte er. »Die beim Anblick von Blut umkippen würden.«
    Jetzt richtete sich unsere Aufmerksamkeit auf eine Frau, die durch die Tür hinter dem Lesepult in den Saal gekommen war. Ihr Eintritt erzielte die gleiche Wirkung wie die eines Orchesterdirigenten in einem Theater: Der Geräuschpegel sank, aber die Menschen verstummten nicht völlig. Vielmehr wurden ihre Gespräche intensiver, zischender, während sich Spannung im Saal ausbreitete. Ich für meinen Teil spürte, wie sich meine Brust zusammenzog vor Aufregung: Bald würde der Mann, der über das verborgene Reich der Seele mehr wußte als irgend
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