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Das geheime Leben des László Graf Dracula

Das geheime Leben des László Graf Dracula

Titel: Das geheime Leben des László Graf Dracula
Autoren: Roderick Anscombe
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jemand sonst auf der Welt, die geheimnisvollen Abgründe, die dem menschlichen Geist innewohnen, vor mir enthüllen.
    Die Frau schritt zielbewußt an ihren Platz hinter dem Stuhl, der an der einen Seite des Podiums stand. Sie war ungefähr fünfzig Jahre alt, und ihr stahlgraues Haar war glatt nach hinten gekämmt und zu einem festen Knoten gebunden.
    Selbst wenn man ihrer einfachen Schwesterntracht Rechnung trug, wirkte ihre Erscheinung und ihre kühle Gelassenheit für die hundert Gesichter, die jede ihrer Bewegungen gespannt verfolgten, streng und abweisend. Von ihrem Gürtel hing eine Kette mit einer Vielzahl von Schlüsseln, von denen einige ziemlich alt aussahen und ihre Wichtigkeit innerhalb der Institution deutlich hervorhoben.
    »Madame Verdun. Charcot hat sie mit der Pflege der Patienten betraut«, erklärte mir mein Nachbar mit leiser Stimme. »Sie ist immun«, fügte er hinzu, und ich glaubte sogar eine Spur Hochachtung in seiner Stimme zu entdecken.
    »Handelt es sich um eine Infektion?« fragte ich.
    Er sah mich befremdet an, als würde er sich wundern, wie jemand so unbedarft sein konnte. »Hysterische Ansteckung«, erklärte er geduldig. »Die Schwester steht direkt hinter dem Stuhl. Sie ist dem gleichen Einfluß ausgesetzt, den Charcot auf die Patientin projiziert. Madame Verdun widersteht jeder Trance.«

    Die Assistenten des Professors, unter ihnen auch Ducasse, kamen herein und nahmen ihre Plätze in der leeren Reihe vor mir ein. Es waren ernste, aufmerksame Männer, die sich wie Diakone in der Kirche benahmen. Wir warteten.
    Dann betrat Professor Charcot den Saal. Mit der Hand an der Tür hielt er inne und warf einen kurzen gebieterischen Blick durch das große Auditorium. Er ist ein kleiner Mann und ein wenig untersetzt, und man nennt ihn den »Napoleon der Neurosen«. Er ist jetzt ganz in Schwarz gekleidet, und seine Hände und sein Gesicht sind unnatürlich blaß. Er ist kein Mann großer Gesten und hält die Hände in Brusthöhe, aber wenn er spricht, sind sie rastlos, als würde er die Wörter aus einem Schwall kleiner Fische auswählen, die durch seine Finger gleiten. Er ist um die Vierzig, und sein langes Haar, das aus seiner hohen Stirn nach hinten gestrichen ist, weist schon graue Strähnen auf. Das alles ist nicht gerade die Beschreibung einer bemerkenswerten Persönlichkeit, was aber daher rührt, daß ich noch nichts über die Augen des Professors gesagt habe. Sie sind absolut durchdringend, liegen tief in den Höhlen und haben schwarze Ringe, wie von zuwenig Schlaf. Sie lodern wie das Feuer.
    Charcot ließ den Blick über die Zuhörer gleiten, und für den Bruchteil einer Sekunde bildete ich mir ein, daß er mich direkt ansah, ein unbekanntes Gesicht ganz vorn in der Menge. Während dieses Augenblicks durchdringender Betrachtung kam ich mir wie unter einer Linse vor, unfähig, meine innersten Geheimnisse zu bewahren, falls er sie hätte wissen wollen. Seine Augen bewegten sich weiter und nahmen die Zuhörer als Ganzes in sich auf, bevor er ihnen den Rücken zukehrte und zum Lesepult schritt.
    Er erklärte, daß er uns etwas Neues zeigen wollte: eine Teilung des Bewußtseins. Nach ein paar einleitenden Bemerkungen nickte er Madame Verdun fast unmerklich zu, und sie ging zur Tür und winkte in dem düsteren Licht den Assistenten, die unseren Blicken entzogen waren. Dann näherte sich eine blasse, geisterhafte Erscheinung der Tür, die von Madame am Arm gefaßt und zu dem Stuhl geführt wurde, der schon für sie bereitstand.
    Charcot neigte den Kopf in ihre Richtung. »Wir sind Ihnen zu Dank verpflichtet, Mademoiselle Stacia«, sagte er.
    Bei Licht war Stacia eine bezaubernde junge Frau mit blondem Haar. Sie war einfach gekleidet, ohne jeden Schmuck, nur mit einem Rock und einer Bluse, die an den Schultern von einem Zugband zusammengehalten wurde. Sie warf den Zuhörern einen etwas erschrockenen Blick zu. Als Charcot sie ansprach, drehte sie sich verwirrt zu ihm um. Es schien ihr schwerzufallen, die Fassung zu bewahren, und ich hatte den Eindruck, als müßte sie ihren ganzen Mut zusammennehmen, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten.
    »Ich bin bereit, Professor«, sagte sie schließlich.
    »Sehr gut«, sagte er mit der gleichen Feierlichkeit.
    Sie sahen einander lange an, als wären wir anderen im Saal gar nicht vorhanden. Charcot bewegte die Hände, ohne den Blick von ihr zu nehmen, und sprach leise mit ihr, so leise, daß ich ihn nicht verstehen konnte. Es waren besänftigende
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