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Das Drachentor

Titel: Das Drachentor
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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erzählt habe - dann ja, sie ist vorbei. Fast …«
    Ardhes zog die Nase hoch. Sie wusste, von wem Octaris sprach, und sie wusste, wieso er in zögerndes Schweigen verfiel. Leise sagte sie: »Ich habe oft an ihn gedacht. Ich habe mich gefragt, ob der letzte Teil der Prophezeiung eingetreten ist - ob er ihr gefolgt ist … Willst du mir von ihm erzählen, ein allerletztes Mal? Wie früher?«
    Octaris sah sie unsicher an. »Möchtest du das wirklich?« »Ja!«, lächelte sie. »Ich trauere ihm nicht mehr nach. Ich habe nie ihn geliebt, das ist mir jetzt klar, ich habe das Bild geliebt, das ich mir von ihm, von uns gemacht habe. Das ist nun vorbei. Ich lebe nicht mehr nach Lügen und Illusionen. Aber ich will es hören. Ich will noch einmal mit dir auf Reisen gehen.« Sie nahm vorsichtig das schwere Buch auf ihren Schoß und zog Feder und Tintenfässchen zu sich heran. »Du bist mein Auge und ich bin dein Gedächtnis, so wie früher, ja? Wir schließen das hier gemeinsam ab. Irgendwie haben wir es ja auch zusammen angefangen.«
    Octaris nickte. Ardhes setzte die Feder aufs Papier. Ihr Vater schloss die Augen. Dann begann er zu sprechen und Ardhes schrieb die Erfüllung der letzten Prophezeiung ins Nir Miludd:

Nebel
    In Haradon kämpften nach dem Tod König Helrodirs zahlreiche Thronanwärter um seine Nachfolge. Ein König kam, wurde drei Monate später ermordet, machte einem neuen König Platz - der König wurde nach einem halben Jahr Opfer einer Revolte, und eine Gruppe von Generälen übernahm die Macht, deren Mitglieder fast regelmäßig verraten, hingerichtet und ersetzt wurden. Nicht nur unterworfene Länder, sondern auch einzelne Städte in Haradon weigerten sich bald, die neue Regierung anzuerkennen. Streitigkeiten innerhalb von Kämpfen, Kämpfe innerhalb von Kriegen spalteten das Land und die Menschen. Es war, als könne nie wieder Frieden herrschen.
    Wenn Revyn die Prügeleien sah, die auf den Marktplätzen Logonds ausbrachen, weil jemand das eine oder andere gesagt hatte, dann taten ihm die Menschen leid. Je beharrlicher sie an einer politischen Überzeugung festhielten, desto hilfloser und verzweifelter kamen sie ihm vor.
    Was ihn selbst betraf, so fühlte er sich dem, was in Haradon und der restlichen Welt vor sich ging, seltsam entrückt. Öfter als früher ertappte er sich dabei, wie er in verschwommene Wachträume verfiel und Gedanken folgte, die ihn nirgendwohin führten. Nachdem seine Verletzung einigermaßen geheilt war und er das Bett verlassen konnte, blieb doch das Gefühl, fehl am Platz oder nicht vollständig zu sein. Daran konnte weder Lilibs Fürsorge noch die Freundschaft mit Jurak etwas ändern.
    Sobald er wieder bei Kräften war, um längere Strecken zu laufen, verließ Revyn Logond und ging in den Wald. Inzwischen war es Spätsommer. Lange stand er einfach nur da, genoss das Sonnenlicht auf seinem bleichen Gesicht und konzentrierte sich auf die Ströme warmer und kühler Luft, die der Wind durch die Baumkronen hauchte. Dann machte er sich auf den Weg, um die Nebelwelt zu finden.
    Er fühlte sich ein wenig schuldig, weil er Lilib und Jurak einfach ohne ein Wort verlassen wollte. Aber bestimmt würden sie ihn verstehen. Wie er wussten sie, dass er nicht mehr nach Logond gehörte.
    Revyn wanderte durch den Wald, bis die Sonne hinter den Bäumen verschwand. Er versuchte, an nichts zu denken und seinem Gefühl zu folgen - dann konzentrierte er sich mit aller Macht auf die Nebelwelt und suchte mit seinem Verstand nach einem Weg -, als auch das nicht half, begann er zu rennen. Seine Verletzung schmerzte. Er stolperte durch das Gebüsch, schlitterte einen Hang hinab, brach durch einen Hain junger Buchen und lief achtlos durch mehrere Bäche. Es wurde immer dunkler. Wieso kamen die Nebel nicht? Was musste er denn noch tun, um sie zu rufen? War er nicht der Mahyûr , in dem die Nebelgeister lebten?
    Er rief laut Yelanahs Namen, er rief nach Palagrin und den anderen Drachen, bis die Vögel erschrocken aus den Ästen flatterten, aber natürlich war das alles sinnlos. Zwischen Sträuchern und Steinen sank er auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. Die Tore der Welten hatten sich geschlossen, wahrscheinlich für immer.
    Wieder und wieder kehrte er in den Wald zurück und suchte von Neuem nach einem Weg zu den Nebeln, doch nichts geschah. Der Wald hatte kein zweites Gesicht mehr.
    Der Herbst kam. In Logond herrschte großer Aufruhr, denn der Stadtrat hatte sich geweigert, der staatlichen
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