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Das Drachentor

Titel: Das Drachentor
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Armee die geforderten Truppen zu liefern. Ab jetzt waren die Bewohner Logonds in erster Linie nicht mehr Haradonen, sondern Logonder. Als Antwort auf diesen Ungehorsam erklärte der Regierungsstab Haradons der eigenen Hauptstadt den Krieg.
    Revyn konnte nicht glauben, dass all das wirklich geschah. Die Welt schien sich plötzlich viel schneller zu drehen und er blieb weiter und weiter in der Vergangenheit zurück. Statt an den öffentlichen Versammlungen der Stadt teilzunehmen und mit Lilib und Jurak die immer neuen politischen Katastrophen zu diskutieren, verbrachte er die meiste Zeit des Tages damit, imaginäre Spaziergänge durch seine Erinnerungen zu unternehmen. Wenn ihm klar wurde, dass außer ihm und Lilib kaum noch jemand die Drachen betrauerte, fühlte er sich so erdrückt, dass er am liebsten geflohen wäre, an einen Ort, wohin ihn nicht einmal seine Gedanken verfolgen konnten.
    Eines Tages hatte er einen Traum, süß und schmerzlich vertraut. Er rannte durch dichten blauen Nebel und war auf der Suche nach etwas, das er nicht benennen konnte. Schatten begleiteten ihn hinter Vorhängen aus Dunst, doch sobald er sich zu ihnen umdrehte, waren sie fort. Dann blieb er stehen. Er konnte nicht mehr laufen. Noch ein Schritt und ihm würde das Herz vor Anstrengung aus der Brust springen. Ohne nachzudenken, sank er auf den feuchten Moosboden. Und da sagte er es endlich, sagte endlich, wonach er auf der Suche war. Er sagte leise und deutlich: »Yelanah, höre mich. Ich kann nicht länger durch den Nebel!«
    Erschrocken fuhr er aus dem Schlaf. Die Worte lagen ihm noch auf der Zunge, aber das erleuchtende Gefühl seines Traumes zerfiel. Schließlich hatte er keine Zauberformel gesprochen, es waren nur ganz gewöhnliche Worte gewesen. Blinzelnd sah er sich um. Seine Kleider waren feucht. Er saß auf dunklem Moos. Die verwunschenen Birken rings um ihn hüllten sich in milchige Schleier.
    Träumte er noch?
    Benommen kam er auf die Füße und drehte sich einmal um sich selbst. Wieso war er im Wald? Wie war er hergekommen? Revyn fuhr sich über den Kopf. War er gestern wieder aufgebrochen, um einen Weg aus der Wirklichkeit zu finden? War er womöglich eingeschlafen und hatte nur geträumt, er sei in Lilibs Haus geblieben?
    Revyn rieb sich immer wieder übers Gesicht. Er konnte sich nicht erinnern! Sosehr er es auch versuchte - er wusste nicht, was gestern geschehen war. Er konnte nicht sagen, wo der Traum endete und die Wirklichkeit begann.
    War das hier die Wirklichkeit?
    Er sah sich wieder um. Die Nebel waren so dicht, dass er nach fünf Schritten Entfernung nichts mehr erkennen konnte. Reglos stand er da und lauschte. Der Wald war vollkommen still.
    Aus den Augenwinkeln nahm er plötzlich eine Bewegung wahr. Er fuhr herum; hinter dem Nebel bewegte sich ein Schatten und glitt fort. Sein Herz begann zu rasen. Vielleicht war es ein Hirsch gewesen. Vielleicht …
    Mit weichen Knien ging er in die Richtung, in die der Schatten verschwunden war.
    Von den Ästen der Bäume hingen Ranken. Farn und dichtes Gebüsch bedeckten den Boden. Revyn stolperte voran, während er nach Schemen im Nebel Ausschau hielt. Irgendwo in der Ferne hörte er ein leises Trappeln auf dem Boden. Ihm war schwindelig vor Aufregung. Seine Schulterverletzung pochte, aber er achtete nicht darauf.
    Die knorrigen Birken wichen mit einem Mal zurück und Revyn trat unversehens in einen sumpfigen Tümpel. Vor ihm wucherten wilde Orchideen. Ein Schwarm brauner Schmetterlinge flatterte auf. Er ging durch den Sumpf und sprang von Stein zu Stein, um mehrere Bachläufe zu überqueren. Die Angst zu träumen durchfuhr ihn schmerzlich. Wenn er jetzt erwachte, würde er vor Kummer zusammenbrechen!
    Irgendwo erklang ein Platschen. Revyn ging an dicht belaubten Eichen vorbei und strich die Zweige zur Seite. Vor ihm lichtete sich der Wald. Die Nebel zogen auf und offenbarten das Ufer eines völlig ruhigen Sees.
    Mit tapsigen Schritten kam er näher. Am Ufer saß ein Mädchen. Langsam richtete sie sich auf und Revyn blieb stehen. Sie wandte ihm das Gesicht zu. Ihre Blicke trafen sich und sie starrten einander an.
    Ihre Haut war weiß wie Nebel. Ihr Kleid schien aus Wasser gewoben. Sie war geisterhaft wie der See. »Endlich«, flüsterte sie. Tränen glänzten in ihren stillen Augen. Vorsichtig streckte sie die Hand nach ihm aus, als sei er der Geist. Ohne zu zögern, ergriff er sie. Ihre Finger fühlten sich so unwirklich an wie Nebel … aber das war ihm gleich. Sie war
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