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Das Drachentor

Titel: Das Drachentor
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Menschenprinzessin.
    Der Bürgerkrieg dauerte nicht lange an - kaum ein halbes Jahr -, und neben den großen Massakern und Machtkämpfen, die in Haradon, Myrdhan und den anderen Ländern, die nicht länger unter Haradons Kolonialmacht standen, das Leben von Tausenden kosteten, schienen die Kämpfe in Awrahell nicht weiter erwähnenswert. Noch dazu war die Großzahl der Opfer elfisch und wen kümmerte schon das Schicksal von ein paar wilden Elfen?
    Schließlich wurden die Elfen aus den Städten vertrieben. Ardhes hörte von Massenverbrennungen. Die elfischen Dörfer in den Bergen, die leere Drohungen über Anschläge und Putschversuche geäußert hatten, wurden von den Menschen attackiert und dem Erdboden gleichgemacht. Zuletzt flohen die Elfen, die überlebt hatten, gen Osten, in die fernen Länder, in denen ihr Volk noch die Aussicht hatte, sich in kargen Einöden, in Wüsten oder Armenvierteln großer Städte anzusiedeln, bis sie eines Tages die Menschen auch von dort vertreiben würden oder ihr Blut sich bereits mit dem der Menschen vermischt hätte. So war das Ziel der Menschen in Erfüllung gegangen; die Welt gehörte ihnen. Sie waren ganz allein.
    Oft musste Ardhes an ihre Mutter denken, die der Untergang der Elfen in Awrahell sicher erfreut hätte. Wäre sie geblieben, hätte Jale womöglich ihren Frieden gefunden, nun da Ardhes ihren Zweck erfüllt hatte. Aber in Haradon war Jale gewiss mit ganz anderen Dingen beschäftigt - was aus ihr geworden war, nachdem Helrodir die Schlacht nicht überlebt hatte, konnte Ardhes nur erraten. Doch eines Tages erhielt sie einen Brief, schlicht und unversiegelt. Als sie ihn öffnete, stand in Jales kleiner Schrift geschrieben:
     
    Schlangen sind die Brut von Schlangen. Der Hass ist uns beiden vertraut, Ardhes. Aber ich weiß, dass ich auch lieben kann, denn ich hatte eine Tochter.
    Kurz darauf hörte Ardhes, dass Jale an einem Putschversuch in Haradon beteiligt gewesen und hingerichtet worden sei. Den Brief hatte sie im Kerker verfasst. Ob Jales Machtgier letzten Endes wirklich zu ihrem Tod geführt hatte oder ob es nur ein Gerücht war - Ardhes erfuhr es nie. Den Brief, den sie ihr zurückschicken wollte, schrieb sie nicht.
    Und was sollte sie auch sagen? Selbst wenn Jale noch lebte, hätte Ardhes nur den Schatten einer Person erreichen können, die sie einst gekannt hatte. Alles hatte sich verändert. Ardhes hatte das Ende einer Zeit erlebt, und das Einzige, was sie und alle anderen Menschen noch verband, war, dass sie Zeugen waren: Sie hatten schweigend nebeneinandergestanden, als die Drachen starben, und nun beobachteten sie stumm das Verbluten der Elfen. Lange glaubte sie, die Welt werde für immer ein Friedhof für sie bleiben, bewohnt von den Geistern der Vergangenheit.
     
    Dann, in einer Nacht, hörte Ardhes ein fernes Lied von draußen. Sie lag in ihrem Bett und hatte in der Dunkelheit vor sich hin gedöst. Nun stand sie auf. Die Vorhänge des Balkons bewegten sich im kühlen Wind. In Wogen trug er den Gesang zu ihr. Ardhes ließ den Armreif, mit dem sie gespielt hatte, um ihr Handgelenk schnappen, trat auf den Balkon und sah hinunter.
    Eine lange Reihe von Laternen leuchtete durch die Dunkelheit. Karawanen von Elfen zogen am Schloss vorbei. Aus mehreren hundert Kehlen drang eine Melodie, traurig und hell, leicht und schwer, flüchtig und doch beständig wie die Wellen des Ozeans, deren Auf und Ab sich bis in die Ewigkeit fortsetzt. Mit angehaltenem Atem folgte Ardhes dem langsamen Fortgang der Lichter. Gingen sie denn wirklich … Vielleicht entfernten sie sich nur von ihr, Ardhes. Vielleicht war alles nur eine Frage des Standpunkts … Und plötzlich glaubte sie sich selbst und die ganze Welt in diesen schwankenden Lichtern zu erkennen. Sie musste an ihre Kindheit und an Revyn denken. Sie musste an ihre Mutter denken und an Octaris. An König Helrodir. An das traurige Schicksal der Drachen. Immer wieder dachte sie an die Drachen und den schrecklichen, erlösenden Zauber, mit dem sie verschwunden - von hier verschwunden - waren.
    Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie raffte ihren Rock, drehte sich um und hastete die Außentreppe am Schloss hinab, lief an den Wachen vorbei, die bei der Wehrmauer patrouillierten und die Elfen ebenfalls beobachteten, und rannte durch die Hallen.
    Seit der Versammlung vor mehr als einem halben Jahr hatte sie Octaris nicht mehr gesehen. Irgendjemand hatte gesagt, er habe das Schloss heimlich verlassen und unterstütze nun die
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