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Das Drachentor

Titel: Das Drachentor
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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elfischen Rebellen im Norden des Landes, doch Ardhes wusste, dass das nicht stimmen konnte. Octaris hätte nie so direkt ins Leben eingegriffen.
    Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie die Tür seines Zimmers am Ende des Ganges sah. Jahre, so schien ihr, war sie nicht mehr hier gewesen. Eine Aura aus Schweigen und Verlorenheit hing in der Luft, doch Ardhes zerriss sie mit ihren eiligen Schritten wie Spinnweben. Sie stieß die Türflügel auf und lief hinaus auf den Balkon, auf dem Octaris mit einem Buch in den Händen saß.
    Träge blickte er zu ihr auf. Ardhes blieb zögernd stehen. Sie schluckte und versuchte, sich zu fassen. »Was liest du da?« Sie wusste, dass die Frage nicht wirklich die passende Begrüßung war, wenn man sich ein halbes Jahr nicht gesehen hatte.
    Octaris folgte ihrem Blick zu dem Buch, als bemerke er es erst jetzt in seinem Schoß. Es war ein schwerer, alter Foliant. In Octaris’ linker Hand ruhte eine Feder. »Das ist das Nir Miludd. Ein Mann hat es mir anvertraut, als er und seine Leute gegangen sind.«
    »Ist er gerade gegangen, mit den Karawanen?«
    Octaris sah sie an und schüttelte den Kopf. »Er hat nicht so lange gewartet.«
    Wieder wurde es still zwischen ihnen. Ardhes überlegte schon, ob es richtig gewesen war, einfach herzukommen. Vielleicht wollte er gar nicht mehr, dass sie ihn aufsuchte. War sie nicht schuld daran, dass die Elfen vertrieben wurden? Hatte sie nicht das heraufbeschworen, was Octaris in diesem Moment so bedrückt, so alt, so unendlich erschöpft aussehen ließ?
    »Wenn du mich hasst«, sagte sie mit wackeliger Stimme, »dann kann ich das verstehen.«
    Octaris öffnete den Mund, aber Ardhes unterbrach ihn sofort. Nichts wollte sie jetzt weniger hören als seinen schwachen Widerspruch. »Weißt du, der Grund, wieso ich gekommen bin, waren die Drachen. Ich habe die Elfen gesehen, die Awrahell verlassen, und ich, ich habe ihr Lied gehört. Das hat mich an so manches erinnert.« Sie lächelte, obwohl sie gar nicht wollte. »Jetzt wo die Drachen verschwunden sind … waren sie denn wirklich so anders als alle anderen Tiere - als alle anderen Wesen? Vielleicht war ihre Besonderheit nur die, dass sie nicht in Gefangenschaft leben konnten. Und vielleicht tragen wir alle, alle Menschen und Tiere, dasselbe in uns. Weißt du, ich … Oft habe ich überlegt, dass die ganze Welt schlecht sein muss, denn das Schlechte hat sich bei mir wahrscheinlich stärker eingeprägt als all die schönen Augenblicke meines Lebens. Aber jetzt habe ich das Lied der Elfen gehört, und es war, als hätte es mir etwas von früher gezeigt, das ich längst vergessen hatte. Ich glaube, es hat mich an die Nächte erinnert, die ich mit meinem Vater verbracht habe … Und jetzt, in diesem Moment, glaube ich nicht mehr, dass die Welt schlecht ist. Und ich kann nicht glauben, dass die Elfen schlecht sind, denn wie könnten sie sonst etwas so Schönes wie dieses Lied singen? Gewiss«, fuhr sie rasch fort, »es ist nur ein Lied, es ist nur da, solange jemand es singt. Aber so ist es wahrscheinlich mit allem Glück und aller Schönheit auf der Welt. Es existiert nur für Augenblicke, es lässt sich nicht greifen, nicht wiederholen, nicht einmal in unserer Erinnerung bleibt es unverfälscht. Und trotzdem ist es genau das, was unserem Leben einen Sinn gibt … oder nicht?« Sie verstummte. Erst jetzt merkte sie, dass sie weinte. »Ich habe so viel falsch verstanden. So viel falsch gemacht. Ich …«
    Octaris’ Stirn war in tiefe Falten gelegt. Dann schob er das Buch zur Seite und öffnete die Arme. »Oh, Ardhes!«
    »Papa …« Sie ließ sich in seine Umarmung fallen und schluchzte. »Es tut mir so leid. Ich weiß nicht, wieso ich dir wehgetan habe!«
    »Ist alles gut«, flüsterte er. Es war das erste Mal, dass sie sich umarmten. Und zum ersten Mal wusste Ardhes ganz genau, dass Octaris sie liebte.
    »Ich wollte dich nie traurig machen, Ardhes. Niemals. Aber wenn - wenn alles, was geschehen ist, zu diesem Augenblick geführt hat, dann bereue ich nichts.«
    Ardhes schüttelte den Kopf. »Nein … ich auch nicht.« Und dass sie die reine Wahrheit sagte, war so befreiend, dass sie am liebsten laut gelacht hätte. »Ist deine Geschichte von den Ahirah jetzt zu Ende?«
    Octaris sah sie aus schimmernden Augen an. »Die Geschichte der Ahirah, Söhne und Töchter von Ahiris, ist erst vorbei, wenn die ganze Welt und das Schicksal selbst zu Ende gehen. Aber wenn du die Geschichte derer meinst, von denen ich
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