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Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
Autoren: Jeannette Walls
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1
    M eine Schwester rettete mir das Leben, als ich noch ein Baby war. Und das kam so: Mom hatte Krach mit der Familie und beschloss, mitten in der Nacht abzuhauen und uns mitzunehmen. Ich war erst ein paar Monate alt, also packte Mom mich in den Babytragesitz. Den stellte sie auf dem Autodach ab, während sie ein paar Sachen im Kofferraum verstaute, dann setzte sie Liz, die drei Jahre alt war, auf die Rückbank. Mom war damals in einer schwierigen Phase und hatte den Kopf voll – Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn, sagte sie später. Sie hatte komplett vergessen, dass ich noch auf dem Dach war, und fuhr los.
    Liz fing prompt an, meinen Namen zu kreischen und nach oben zu zeigen. Zuerst verstand Mom nicht, was Liz meinte, doch dann begriff sie und stieg auf die Bremse. Der Tragesitz rutschte nach vorn auf die Motorhaube, aber da ich angeschnallt war, passierte mir rein gar nichts. Ich heulte nicht mal. Immer wenn Mom in den Jahren danach die Geschichte erzählte, die sie zum Schreien komisch fand und mit Vorliebe hochdramatisch nachspielte, sagte sie, Gott sei Dank habe Liz alle fünf Sinne beisammen gehabt, sonst wäre der Sitz im hohen Bogen runtergeflogen und mit mir wäre es aus gewesen.
    Liz erinnerte sich lebhaft an die ganze Sache, aber sie fand sie nie lustig. Sie hatte mich gerettet. So eine Schwester war Liz. Und deshalb machte ich mir an dem Abend, als das ganze Chaos anfing, auch keine Sorgen, dass Mom seit vier Tagen weg war. Ich machte mir eher Sorgen wegen der Hühnerpastetchen.
    Ich konnte es nicht ausstehen, wenn die Kruste von unseren Hühnerpastetchen verbrannte, aber die Uhr an unserem Minibackofen war kaputt, und deshalb starrte ich an dem Abend durch die kleine Glasscheibe vom Ofen, weil man nämlich, sobald die Pasteten anfingen, braun zu werden, aufpassen musste wie ein Luchs.
    Liz deckte den Tisch. Mom war nach Los Angeles gefahren, zu irgendeinem Aufnahmestudio, wo sie für ein Engagement als Backgroundsängerin vorsingen wollte.
    »Meinst du, sie kriegt den Job?«, fragte ich Liz.
    »Ich hab keine Ahnung«, sagte Liz.
    »Ich aber. Diesmal hab ich ein gutes Gefühl.«
    Seit wir nach Lost Lake gezogen waren, einer südkalifornischen Kleinstadt in der Colorado-Wüste, war Mom sehr oft nach Los Angeles gefahren. Meistens blieb sie dann nur ein oder zwei Nächte weg, nie so lange wie diesmal. Wir wussten nicht genau, wann sie zurückkommen würde, und weil uns das Telefon abgestellt worden war – Mom lag wegen einiger Ferngespräche, von denen sie behauptete, sie hätte sie nicht geführt, im Clinch mit der Telefongesellschaft –, konnte sie uns nicht anrufen.
    Trotzdem, es war noch nicht besonders beunruhigend. Moms Karriere hatte immer ganz schön viel von ihrer Zeit in Anspruch genommen. Als wir noch kleiner waren, engagierte sie einen Babysitter oder bat eine Freundin, auf uns aufzupassen, während sie irgendwohin düste, nach Nashville oder so. Deshalb waren Liz und ich daran gewöhnt, allein zu sein. Liz hatte das Sagen, weil sie schon fünfzehn war und ich gerade erst meinen zwölften Geburtstag gefeiert hatte, aber ich war kein Kind, das behütet werden musste.
    Wenn Mom unterwegs war, aßen wir immer nur Hühnerpastetchen. Ich war ganz verrückt nach den Dingern und hätte sie jeden Abend essen können. Liz meinte, wenn man dazu ein Glas Milch trank, hatte man ein Abendessen, bei dem alle vier Nahrungsgruppen vertreten waren – Fleisch, Gemüse, Getreide und Milch –, und somit waren die Pastetchen die ideale Kost.
    Außerdem machte es Spaß, sie zu essen. Du kriegtest dein eigenes Pastetchen in dem hübschen kleinen Aluförmchen und konntest damit machen, was du wolltest. Ich stieß gern den knusprigen Deckel auf und zermatschte ihn mit den Möhrenstückchen und den Erbsen und der gelben Soße. Liz fand es unappetitlich, alles zusammenzumatschen. Außerdem wurde die Kruste dann pampig, und was ihr an Hühnerpastetchen so gefiel, war der Kontrast zwischen der knusprigen Kruste und der glibberigen Füllung. Also ließ sie die Kruste ganz und schnitt sich für jeden Bissen niedliche kleine Tortenstückchen heraus.
    Sobald die Kruste so richtig schön goldbraun war und die kleinen geriffelten Ränder ganz knapp davor waren, anzubrennen, meldete ich, dass sie fertig waren. Liz zog sie aus dem Minibackofen, und wir setzten uns an den roten Resopaltisch.
    Wenn Mom nicht da war, spielten wir beim Abendessen oft Spiele, die Liz sich ausgedacht hatte. Eines hieß Schluck-und-Spuck. Dabei
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