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Das Drachentor

Titel: Das Drachentor
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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wiederzusehen, und in gewisser Weise war es auch so. Als sie im Hof ankam und sich von ihren Dienerinnen in eine warme Kaminhalle geleiten ließ, fühlte sie sich wie eine Fremde in einem alten Traum. Die ganze Nacht saß sie vor dem Kaminfeuer, starrte abwesend in die Flammen und dachte an alles und nichts. Sie war eine Witwe, aber das schien nichts mit ihr zu tun zu haben. Schließlich war sie ihr ganzes Leben lang irgendwer gewesen, ohne davon selbst etwas zu bemerken. Auch dass ihr leiblicher Vater gestorben war, bevor er ihren Tod hatte veranlassen können, und dass Haradon und Myrdhan beide führerlos geworden und dem politischen Chaos ausgeliefert waren, spielte sich scheinbar in einer parallelen Welt ab, die Ardhes nicht betraf.
    Am nächsten Morgen wurde Alasar bestattet. Als Ardhes an seinen steinernen Sarg trat, tat er ihr plötzlich leid. Er war bleich und sah viel jünger aus. Sein Gesicht schien aufgebrochen; eine Verletzlichkeit war sichtbar geworden, die Ardhes berührte. Sie betrachtete ihn lange. Hätte sein Leben nicht so viele Brüche gehabt, hätte seine Leidenschaft vielleicht ganz andere Wege gefunden. Und vielleicht hätten sie eine Zukunft gehabt.
    Dann fiel Ardhes’ Blick auf ein goldenes Schmuckstück, das in seine Hände geschlossen war. Vorsichtig zog sie es hervor. Vor Erstaunen öffnete sie den Mund - es war ihr Armreif! Der Armreif, den Octaris ihr in ihrer Kindheit geschenkt und den sie Revyn einst gegeben hatte … Wie war er in Alasars Hände gekommen?
    Nachdenklich betrachtete sie sein Gesicht. Die Antwort würde sie wohl nie erfahren. Sie steckte den Armreif ein und gab dem Toten stattdessen die Kette in die Hände, die sie gerade trug. Der Kristallanhänger stammte aus Myrdhan.
    Der Sarg wurde geschlossen und versiegelt. So nahm er seinen Platz in der Gruft des Schlosses ein, umgeben von den Königen der Vergangenheit, geschützt von dem Element, das sein Leben bestimmt hatte: Fels.
     
    Zwei Tage später fand eine Versammlung statt, in der über die Zukunft Awrahells und seine politische Haltung den anderen Ländern gegenüber entschieden werden sollte. Über Nacht war das einst bedeutungslose Awrahell zu einem der stärksten Königreiche des mittleren Westens aufgestiegen. Haradon und Myrdhan hatten keinen König mehr und verfügten nicht länger über eine funktionierende Streitmacht. Und es gab keine Drachen mehr - damit war der größte Nachteil des Militärs von Awrahell für immer beseitigt.
    Als Ardhes die Halle betrat, verstummten die Berater und Generäle. Sie trug Trauerkleider und ihr Gesicht wirkte gealtert. Sie nahm auf dem Thron Platz und ließ den Blick eine Weile über die Versammelten schweifen. Kein einziger Myrdhaner war anwesend. Die, die überlebt hatten, waren längst in ihre Heimat zurückgekehrt, als wäre ihr Heerführer nie König von Awrahell gewesen. Am Rand der Halle erspähte Ardhes Octaris neben einer kleinen Gruppe elfischer Vasallen. Erwartungsvolle Gesichter sahen zu ihr auf.
    »Ich trage Trauer«, begann Ardhes. Ihre Stimme klang hohl, als die Gemäuer das Echo zurückwarfen. »Mein Gemahl ist gestorben. Und mein Land. Wir wollen beraten, wie es mit unserer Politik weitergeht. Lasst uns ehrlich sprechen, das erste Mal in unserem Leben: Für die Elfen gibt es in Awrahell keine Zukunft. Dafür haben meine Mutter, mein Vater, mein Gemahl und ich gesorgt. Und der Thron gehört mir, einem vollblütigen Menschen.« Tumult brach aus. Verblüffte Blicke wanderten zwischen ihr und Octaris hin und her. Octaris sah nur Ardhes an.
    Laut rief sie über das Stimmengewirr hinweg: »Aber auch für die Menschen gibt es in Awrahell keine Zukunft. Es ist ein Reich für niemanden, zerstört von allen.« Damit erhob sie sich und lief aus der Halle. Ein kindischer, naiver Teil in ihr wünschte sich noch immer, Octaris würde ihr folgen und sich das erste Mal in ihrem Leben wirklich um sie kümmern - aber er verharrte natürlich, wo er war, traurig und gedankenverloren wie immer. Sie hatte nichts anderes erwartet.
    Wochen später, als in Awrahell der Bürgerkrieg zwischen Menschen und Elfen ausbrach, war Ardhes alles andere als überrascht. Sie hatte gewusst, dass ihre Enthüllung die in Awrahell ansässigen Elfen entrüsten musste. Und sie verstand sie auch - niemand konnte von ihnen verlangen, dass sie sich einer Königin unterwarfen, die nicht vom wahren, elfischen Königsgeschlecht Awrahells abstammte. Ardhes war nur die uneheliche Tochter einer
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