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Clarissa

Clarissa

Titel: Clarissa
Autoren: Jude Deveraux
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wunden Stellen, die von ihrem wollenen Kleid noch zusätzlich gescheuert wurden, nun abzuheilen begannen. Und wie frei man sich in den Kleidern eines Jungen bewegen konnte! dache sie, als sie erst das eine Bein in die Höhe schwang und dann das andere.
    Sie schlüpfte in kniehohe Stiefel, verschnürte sie an den Knöcheln, nahm den goldenen Gürtel aus dem Kleiderhaufen, der zu ihren Füßen lag, und band ihn unter dem Wams und dem wollenen Hemd um die Taille. Als sie endlich so weit angezogen war, band sie noch eine bestickte Schärpe um die Hüften und ging zu der Stelle, wo der Diener des Grafen auf sie wartete.
    »Gut! « sagte er, während er sie im Kreis herumdrehte und von allen Seiten musterte. Bei der Betrachtung ihrer Beine runzelte er die Stirn, denn sie waren ein bißchen zu hübsch für einen Jungen. »Und jetzt die Haare. « Er nahm eine Schere aus der Tasche an ihrer Schärpe.
    Clarissa wich einen Schritt zurück, die Hand an ihren langen, glatten Haaren. Eine Schere war noch nie mit ihren Haaren in Berührung gekommen.
    »Nun komm schon«, drängte der Mann. »Es wird spät. Es sind nur Haare, Mädchen. Sie wachsen nach. Besser, du läßt sie schneiden, als daß sie zusammen mit deinem Kopf in einem Hexenfeuer verbrennen. «
    Clarissa nahm ihren ganzen Mut zusammen und drehte dem Mann den Rücken zu, damit er sich mit ihren Haaren beschäftigen konnte. Als es zu Boden fiel, fühlte sich ihr Kopf seltsam leicht an — durchaus keine unangenehme Überraschung.
    »Schau nur, wie es sich jetzt wellt«, sagte der Mann, bemüht, ihr über diese schreckliche Situation hinwegzuhelfen. Als er mit dem Haareschneiden fertig war, drehte er sie um und nickte zustimmend über die Wellen und Locken, die ihr nun in das kecke kleine Gesicht fielen. Er dachte bei sich, daß ihr die kurzen Haare und die Knabenkleider besser standen als das häßliche Kleid, das sie vorher trug.
    »Warum? « fragte sie, ihn ansehend. »Ihr arbeitet für den Mann — weshalb steht Ihr mir also bei? «
    »Ich kenne den Junker« — sie wußte, er sprach von Pagnell — »von seiner Geburt an. Er bekam immer, was er sich wünschte, und sein Vater brachte ihm bei, sich zu nehmen, was er nicht haben sollte. Ich habe schon öfter versucht, die Untaten des Jungen auszubügeln. Bist du bereit? « Offenbar wollte er dieses Thema nicht weiter verfolgen.
    Clarissa setzte sich hinter den Mann auf das gutmütige Pferd, und sie ritten am Waldrand entlang nach Norden. Unterwegs hielt ihr der Diener einen Vortrag, wie sie sich verhalten mußte, um ihr Geheimnis zu bewahren. Sie mußte gehen wie ein Junge, mit langen Schritten, die Schultern nach hinten gedrückt. Sie durfte nicht auf törichte Weise lachen oder weinen, sollte fluchen, durfte nicht zu oft baden, mußte spucken und sich kratzen und durfte keine Arbeit scheuen. Spinnen und Schmutz mußten sie kalt lassen, und so ging es fort, bis Clarissa fast eingeschlafen war, womit sie sich eine neue Predigt einhandelte, die mangelnde Robustheit von Mädchen betreffend.
    Als sie den Teil des Waldes erreichten, wo die Geächteten sich versteckten, gab er ihr einen Dolch, den sie an der Seite tragen sollte, um sich damit zu schützen, und schärfte ihr ein, sich im Umgang mit dieser Waffe zu üben.
    Sobald sie den Waldrand verlassen hatten und in den dunklen, drohenden Wald eindrangen, hörte er auf zu reden, und Clarissa konnte die Spannung fühlen, die jetzt, seinen Körper ergriff. Sie merkte, daß ihre Knöchel sich an den Fingern, mit denen sie sich am Rande des Sattels festhielt, weiß wurden.
    Der Schrei eines Nachtvogels drang zu ihnen, und der Diener beantwortete ihn. Noch tiefer im Wald schrie wieder eine Eule, und so wurde das Signal weitergegeben, während der Diener anhielt, Clarissa vom Pferd half und aus dem Sattel stieg. »Wir werden hier bis zum Morgen warten«, sagte er mit einer Stimme, die nicht viel lauter war als ein Flüstern. »Sie wollen herausfinden, wer wir sind, bevor sie uns ihr Lager betreten lassen. Komm, Junge«, sagte er lauter, »laß uns hier schlafen. «
    Doch Clarissa fand keinen Schlaf, sondern lag nur still unter der Decke, die ihr der Diener gegeben hatte, und ging in Gedanken alles durch, was ihr widerfahren war. Daß sie wegen der Laune eines Edelmannes hier in diesem kalten, fürchterlichen Wald alleine war, während das Leben ihres Vaters auf so grau-same Weise ein Ende gefunden hatte. Bei diesen Gedanken begann der Zorn ihre Furcht und ihre Trauer zu ersetzen.
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