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Clarissa

Clarissa

Titel: Clarissa
Autoren: Jude Deveraux
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er an, ihre langen Haare zu einem dicken Zopf zu flechten. Ihre Haare waren dick und üppig, völlig glatt und von einer Farbe, die selbst ihrem Vater Rätsel aufgab. Ihm war, als hätte ein Kind auf dem sehr kleinen Kopf einer jungen Frau alle erdenklichen Haarfarben unterbringen wollen. Da waren Strähnen aus schimmerndem Gold, hellem Flachs, tiefem Kastanienrot, güldenem Rot, Mausbraun und sogar — so behauptete Clarissa jedenfalls — aus etwas Grau.
    Als ihr Haar zu einem Zopf geflochten war, holte er einen Umhang von der Wand, legte ihn ihr um die Schultern und band die Kapuze unter ihrem Kinn fest. »Vergiß dich nicht so sehr, daß du dich erkältest«, sagte er mit gespielter väterlicher Strenge und drehte sie herum. »Nun geh, und wenn du wiederkommst, möchte ich etwas besonders Schönes von dir hören! «
    »Ich werde mein Bestes tun«, sagte sie und zog lachend die Haustüre hinter sich zu.
    Von ihrem Anwesen, das sich direkt an die Stadtmauer lehnte und dem Stadttor gegenüberlag, konnte Clarissa fast die ganze Gemeinde übersehen und das Erwachen der Stadt verfolgen. Die Hausdächer waren nur wenige Zoll voneinander entfernt, und die am Innenkreis der Mauer entlangführende Allee war auch nicht viel weiter davon. Aus Fach werk und Feldsteinen, Ziegeln und Stuck lehnten sich die Gebäude aneinander, manche so stattlich, wie das Haus des Bürgermeisters, andere wieder so winzig, wie die Wohnungen der Handwerker oder wie die Behausung ihres Vaters, des Stadtadvokaten. Eine leichte Brise strich über die Dächer und brachte die Ladenschilder zum Klappern.
    »Guten Morgen«, rief eine Frau, die den Kies vor dem Haus fegte, zu Clarissa hinüber. »Arbeitest du an einem Kirchenlied für die heutige Vesper? «
    Während Clarissa die Zither an ihrem Band über die Schulter schob, winkte sie der Nachbarin zu. »Ja… und nein. Alles zugleich! « sagte sie lachend, winkte noch einmal und eilte dann zum Stadttor.
    Sie blieb abrupt stehen, weil sie um ein Haar in einen Karrengaul hineingelaufen wäre. Ein Blick nach oben zeigte ihr, daß John Thorpe ihr absichtlich den Weg verlegt hatte.
    »Hoha, hallo, kleine Clarissa — hast du kein freundliches Wort für mich? « sagte er grinsend, während sie dem alten Klepper auswich.
    »Clarissa! « rief eine Stimme vom Ende des Wagens her. Mistreß Burbage leerte ihre Nachtgeschirre über dem hochbordigen Jauchenwagen aus, auf dessen Kutschbock John Thorpe saß. »Könntest du einen Moment zu mir ins Haus kommen? Meine jüngste Tochter leidet an gebrochenem Herzen. Ich dachte mir, vielleicht könnte sie ein neues Liebeslied wieder gesund machen. «
    »Ja«, rief John lachend von seinem Bock herunter, »und ich brauche ebenfalls dringend eine neue Liebesweise. « Dabei rieb er sich anzüglich die Kehrseite, in die ihn vor zwei Tagen Clarissa gezwickt hatte, als er versuchte, ihr einen Kuß zu stehlen.
    »Für dich, John«, sagte sie honigsüß, »werde ich ein Lied komponieren, das so lieblich ist, wie der Duft deiner Ladung. « Sein schepperndes Gelächter übertönte fast ihre Antwort an Mistreß Burbage, daß sie heute abend nach der Messe zu ihr kommen wolle.
    Und dann, mit einem leisen Stöhnen, begann Clarissa zum Tor zu rennen. Wenn sie noch ein paar Sekunden länger in den Mauern blieb, würden die Leute sie mit ihren Wünschen so bestürmen, daß sie keine Zeit mehr fand, außerhalb der Mauern ungestört an ihrer Musik zu arbeiten.
    »Du bist spät dran heute, Clarissa«, grüßte der Torwächter. »Und vergiß nicht, mir eine schöne Musik für mein krankes Kind zu machen! « rief er ihr nach, als sie auf die Obstgärten vor der Mauer zulief.
    Endlich erreichte sie ihren Lieblingsapfelbaum und öffnete mit einem Lachen, das pures Glück verriet, ihr kleines Pult, um die Musik niederzuschreiben, die sie in ihrem Kopf hörte. Sie setzte sich, lehnte sich an den Stamm zurück und spielte auf der Zither die Weise, die ihr schon seit dem frühen Morgen im Ohr lag. Völlig in ihre Arbeit versunken, Lyrik und Noten auf ihrem Blatt zu einer Weise zu verbinden, merkte sie gar nicht, wie die Stunden vergingen. Als sie mit steifen Schultern und wunden Fingern aufstand, um Luft zu schöpfen, hatte sie zwei Lieder verfaßt, und nun begann sie mit einem neuen Psalm für die Kirche.
    Sie streckte sich mit einer fast übertriebenen Ausdauer, stellte ihre Zither beiseite, stützte die Hand auf einen niedrigen kahlen Ast und blickte über die bestellten Felder bis zu den
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