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Clarissa

Clarissa

Titel: Clarissa
Autoren: Jude Deveraux
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Kapitel 1
    Die kleine Ortschaft Moreton war von einer hohen Steinmauer umgeben. Der graue Wall warf einen langen Schatten über die vielen Häuser, die sich in der Umfriedung zusammendrängten. Ausgetretene Pfade verbanden die Gebäude und liefen zu einem zentralen Punkt zusammen, der von einer hohen Kirche und dem weißgetünchten imposanten Rathaus beherrscht wurde. Im trüben Dämmerlicht des Morgens begannen ein paar Hunde sich zu strecken, gingen einige noch schlaftrunkene Frauen zum Stadtbrunnen und warteten vier Männer, Äxte über der Schulter, daß die Torwächter die schweren Eichenflügel in der steinernen Stadtmauer öffneten.
    In einem schlichten, schmalbrüstigen, gekalkten Haus horchte Clarissa Blackett mit jeder Faser ihres Körpers auf das Knarren der Torflügel. Als sie das erwartete Geräusch vernahm, hob sie ihre weichen Lederschuhe auf und ging auf Zehenspitzen zur Treppe, die unglücklicherweise im Schlafzimmer ihres Vaters mündete. Sie war schon seit Stunden angezogen, hatte sich noch vor Sonnenaufgang ein einfaches Kleid aus grober Wolle übergestreift. Ausnahmsweise war sie heute nicht so scharf mit ihrer eigenen Figur ins Gericht gegangen wie sonst. Sie schien zwar ihr Leben lang vergeblich darauf warten zu müssen, daß sie endlich erwachsen wurde, an Höhe zulegte oder wenigstens an Kurven. Doch mit zwanzig mußte sie sich wohl sagen, daß sie für immer auf die fraulichen Reize wohlgerundeter Hüften oder ausladender Brüste verzichten mußte. Wenigstens, dachte sie seufzend, brauchte sie kein Korsett.
    Sie warf einen raschen Blick auf ihren Vater, um sich zu vergewissern, daß er auch schlief, legte den langen Wollrock über den Arm und machte einen langen Schritt über die vierte Stufe hinweg, weil diese, wie sie wußte, besonders knarzte.
    Unten wagte sie nicht, einen Fensterladen zu öffnen, da das Geräusch ihren Vater wecken konnte, der dringend der Ruhe bedurfte. Sie wich einem Tisch aus, der mit Papieren, Tintenfaß, Schreibgeräten und einem halbfertigen Testament, das ihr Vater entwerfen wollte, bedeckt war. Sie ging zu der entfernten Wand und sah sehnsüchtig zu zwei Instrumenten hoch, die dort hingen. Alle wehleidigen Gedanken, ihre mangelhafte Figur betreffend, verflogen sofort, wenn sie an ihre Musik dachte. Schon begann sich eine neue Melodie in ihrem Kopf zu formen. Eine zarte Melodie, die sich natürlich für ein Liebeslied eignete.
    »Kannst du dich nicht entschließen? « kam die Stimme ihres Vaters vom Fuß der Treppe her.
    Sogleich lief sie zu ihm, schlang die Arme um seine Taille und half ihm zum Tisch. Selbst im dunklen Zimmer vermochte sie die Ringe unter seinen Augen zu erkennen. »Du hättest im Bett bleiben sollen. Du mußt nicht schon mit der Arbeit beginnen, wenn es noch gar nicht richtig Tag ist. «
    Er faßte einen Moment ihre Hand und lächelte zu ihrem hübschen Gesicht hinauf. Er wußte genau, was seine Tochter von ihren elfenartigen feinen Zügen hielt, ihren leicht schräg stehenden violetten Augen, der winzigen Nase und dem schön geschwungenen kleinen Mund — er hatte ihre Klagen darüber oft genug gehört. Doch für ihn war alles an ihr lieb und teuer. »Komm«, sagte er, sie sacht zur Wand schiebend, »such dir dein Instrument aus und geh aus dem Haus, ehe jemand kommt und dir in den Ohren liegt, er bräuchte unbedingt ein neues Lied für seinen neuesten Schwarm. «
    »Vielleicht sollte ich heute morgen bei dir bleiben«, flüsterte sie, während ihr Gesicht die Sorge für ihn widerspiegelte. Im vergangenen Jahr hatte er dreimal schreckliche Herzschmerzen gehabt.
    »Clarissa! « warnte er sie, »sei nicht ungehorsam! Nimm deine Sachen und geh! «
    »Ja, mein Lord«, lachte sie und schenkte ihm ein in seinen Augen herzzerschmelzendes Lächeln, wobei sich ihre Augen in den Winkeln in die Höhe zogen und ihr Mund sich zu einem perfekten Cupidobogen formte. Mit einer raschen, geübten Bewegung holte sie die lange, mit Stahlsaiten versehene Zither von der Wand herunter und ließ den Psalter an seinem Ort.
    Sie drehte sich um und sah auf ihren Vater. »Bist du sicher, daß es dir gutgeht? Ich muß heute morgen das Haus nicht verlassen. «
    Er achtete nicht auf ihre Worte, sondern reichte ihr das Scholaren-Gepäck, ein kleines Pult, das man auf den Schoß nehmen konnte, mit Feder, Tinte und Papier. »Mir ist es lieber, du komponierst, statt die Zeit mit einem alten kranken Mann zu vertrödeln. Komm noch einmal her, Clarissa! « Mit geübten Händen fing
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