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Clarissa

Clarissa

Titel: Clarissa
Autoren: Jude Deveraux
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umfriedeten Schafweiden des Grafen hin.
    Nein! Sie wollte nicht in Trübsinn verfallen, wenn sie an den Grafen dachte. Er hatte so viele Bauern von ihrer Scholle vertrieben, indem er den Pachtzins unerträglich steigerte und das freiwerdende Land dann einzäunte, um es mit seinen gewinnbringenden Schafen zu besiedeln. Denke an etwas Angenehmes, befahl sie sich und sah in die andere Richtung. Und was gab es denn Schöneres im Leben als Musik?
    Schon als Kind hatte sie immer nur Musik in ihrem Kopf gehört. Während der Priester mit dröhnender Stimme die lateinische Messe las, war sie in Gedanken damit beschäftigt, ein neues Lied für den Knabenchor zu erfinden. Beim Erntedankfest sonderte sie sich von der Menge ab, weil sie mit Liedern beschäftigt war, die nur sie hören konnte. Ihr Vater, der seit vielen Jahren verwitwet war, kam fast um den Verstand, weil er stundenlang vergeblich nach seinem verlorengegangenen Kind gesucht hatte.
    Eines Tages, als sie zehn Jahre alt war, ging sie zum Brunnen, um Wasser zu holen. Ein Troubadour, der die Stadt besuchte, hatte mit einer jungen Frau auf einer Bank gesessen, und an der Brunnenfassung lehnte seine verwaiste Laute. Clarissa hatte noch nie ein Instrument in der Hand gehalten; doch sie hatte oft genug zugehört und zugesehen, so daß sie wenigstens wußte, wie man auf einer Laute greifen mußte, um ihr die richtigen Töne zu entlocken. Binnen Minuten hatte sie eine von den Weisen, die ihr durch den Kopf spukten, auf der Laute gezupft, und sie war schon bei ihrem vierten Lied, ehe sie merkte, daß der Troubadour seinen Flirt aufgegeben hatte und neben ihr stand. Stumm, sich nur mit der Sprache der Musik verständigend, hatte er ihr gezeigt, wie sie die Finger für die Akkorde setzen mußte. Der Schmerz, den die scharfen Saiten ihren zarten Fingerkuppen versetzten, war nichts im Vergleich zu ihrer jubelnden Freude, zum erstenmal ihre Musik, die sie im Kopf hatte, auch hören zu können.
    Drei Stunden später, als ihr Vater mit resignierter Miene sich auf die Suche nach seiner Tochter machte, entdeckte er sein Kind am Brunnen, umlagert von der halben Einwohnerschaft der Kleinstadt, die sich zuraunte, was für ein Wunder sie erlebte. Der Priester, der in dem Wunder ungeahnte Möglichkeiten erkannte, nahm sie mit zur Kirche und setzte sie vor das Klavikord. Nach ein paar Minuten des Experimentierens begann Clarissa, zunächst noch stümperhaft, dann immer fließender ein Magnifikat zu spielen, einen Lobgesang auf die Kirche, während sie beim Spiel den Text leise vor sich hinsprach.
    Clarissas Vater war unendlich erleichtert, daß sein einziges Kind nicht wirr im Kopf war, sondern nur so voller Musik, daß sie zuweilen auf nichts reagierte, was er zu ihr sagte. Nach diesem denkwürdigen Tag übernahm der Priester Clarissas Ausbildung in dem Glauben, ihr Talent käme von Gott, und als Gottes Sprachrohr sei ihm ihre Erziehung anheimgegeben. Er brauchte nicht hinzuzufügen, daß ihr Vater als Advokat von Gottes Herrlichkeit weit entfernt war, und je weniger sie in seiner Gesellschaft verbrachte, um so besser für sie.
    Es folgten vier Jahre strengster musikalischer Ausbildung, in deren Verlauf der Priester es fertigbrachte, sich jedes bisher erschaffene Musikinstrument auszuleihen, damit Clarissa das Spielen darauf erlernte. Sie spielte die Tasteninstrumente, die Hörner, Saiteninstrumente mit und ohne Bogen, Trommeln, Glocken und das gewaltige Orgelpfeifen-Instrument, dessen Kauf der Priester sich sogar von der Gemeinde ertrotzte, um damit den Wunsch des Herrn (und Clarissas und seinen eigenen) zu erfüllen.
    Als der Priester sicher war, daß sie Orgel spielen konnte, ließ er einen Franziskanermönch kommen, der sie im Verfassen der Musik unterwies und wie man Lieder, Balladen, Messen und Litaneien (und was es sonst noch alles gab) in Noten und Symbole umzusetzen habe.
    Da sie so sehr damit beschäftigt war, ihre Instrumente zu spielen und ihre Noten niederzuschreiben, dauerte es bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr, ehe jemand bemerkte, daß sie auch singen konnte. Der Mönch, der kurz vor der Rückreise zu seiner Abtei stand, da Clarissa alles gelernt hatte, was er ihr beibringen konnte, kam eines Morgens in aller Frühe in die Kirche und wurde von so einer mächtigen Stimme empfangen, daß die Knöpfe an seiner Kutte zu beben begannen.
    Als er sich endlich davon überzeugen konnte, daß dieser überwältigende, herrliche Gesang aus der Kehle seiner sehr schmächtigen
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