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Clarissa

Clarissa

Titel: Clarissa
Autoren: Jude Deveraux
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holten die Taue wieder ein und ließen sich anschließend auf den schmalen Umgang hinunter, der an den dichtgedrängten Häusern innerhalb der Mauer entlangführte.
    Pagnell hob den Arm zum Zeichen, daß seine Freunde ihm folgen sollten, während er leise an den Häuserfronten entlangschlich und nach den Straßenschildern suchte, die an den Fassaden befestigt waren. »Eine Hexe«, murmelte er zornig. »Ich werde ihnen zeigen, wie sterblich sie ist. Die Tochter eines Advokaten — der Abschaum der Erde. «
    Bei Clarissas Haus hielt er an, glitt rasch an der Seitenwand entlang, bis er zu einem Fensterladen kam. Ein heftiger Schlag, ein berstender Laut, und der Riegel war gesprengt. Mit einem Satz war im Haus.
    Im Oberstock lag Clarissas Vater still im Bett, die Hände über der Brust verkrampft, weil sein Herz ihm mit stechenden Schmerzen den Schlaf raubte. Als er das Bersten des Fensterladens hörte, keuchte er, weil er zunächst seinen Ohren nicht trauen wollte. Seit Jahren hatte es in der Stadt keinen Einbruch mehr gegeben.
    Während er rasch mit Feuerstein und Zunder eine Kerze zum Brennen brachte, erhob er sich vom Bett und ging die Treppe hinunter. »Was bildet ihr Halunken euch ein? « rief er laut, als Pagnell einem Freund durch das Fenster steigen half.
    Das waren die letzten Worte, die ihm auf Erden zu sprechen vergönnt waren, denn im nächsten Moment war Pagnell schon bei ihm, packte den alten Mann bei den Haaren und fuhr ihm mit seinem Messer an die Kehle. Ein tiefer, rascher Schnitt, und er ließ den leblosen Körper zu Boden fallen, ohne ihm noch einen Blick zu gönnen. Dann ging er wieder ans Fenster, um den Kumpanen beim Einsteigen zu helfen. Als sie alle im Zimmer versammelt waren, wandte er sich der Stiege zu.
    Clarissa hatte ebenfalls nicht einschlafen können, da sie von den trüben Erfahrungen des Tages zu aufgewühlt war. Jedesmal, wenn sie die Augen schloß, sah sie Pagnell vor sich, roch seinen üblen Atem, spürte seine Zunge in ihrem Mund. Es war ihr irgendwie gelungen, vor ihrem Vater zu verbergen, was sich zugetragen hatte, daß sie ihn nicht aufregen wollte. Zum erstenmal in ihrem Leben war sie in Gedanken mit etwas anderem beschäftigt als mit Musik.
    So sehr verstört war sie, daß sie zunächst die Geräusche im Erdgeschoß gar nicht hörte, bis sie die zornige Stimme ihres Vaters vernahm und den seltsam dumpfen Fall, der darauf folgte.
    »Räuber! « wimmerte sie und warf die wollene Zudecke beiseite. Rasch griff sie nach ihrem Kleid und zog es über den Kopf, um ihre Blöße zu bedecken. Warum wollte jemand sie berauben? Sie waren so arm, daß ein Einbruch in ihrem Haus nicht lohnte. Der Löwengürtel! dachte sie dann, vielleicht hatten sie von dieser Kostbarkeit gehört! Sie öffnete einen schmalen Wandschrank, entfernte geschickt den falschen Boden und nahm das einzig wertvolle Stück, das sie besaß, heraus — einen Gürtel aus Gold, den sie rasch um ihre Taille schlang.
    Ein Geräusch in der Schlafstube ihres Vaters schreckte sie auf. Schritte näherten sich ihrer Tür. Sie packte einen schweren gußeisernen Kerzenhalter, stellte sich hinter die Tür und wartete mit angehaltenem Atem.
    Die Tür bewegte sich ganz langsam in ihren Angeln aus Leder, und als Clarissa einen kräftigen, gutgezielten Schlag gegen den Kopf des Eindringlings führen konnte, holte sie mit aller Macht aus und zog ihm den Kerzenhalter über den Scheitel.
    Pagnell brach vor ihren Füßen zusammen, konnte jedoch noch einen Blick auf sie werfen, ehe er das Bewußtsein verlor.
    Der Anblick dieses Edelmannes in ihrem kleinen Haus ließ das Entsetzen des vergangenen Tages wieder in ihr lebendig werden. Das war kein gewöhnlicher Einbruch, und wo steckte ihr Vater?
    Noch mehr Schritte, die lärmend die Stiege heraufkamen, brachten sie wieder zur Besinnung. Ein verzweifelter Rundblick belehrte sie, daß das Fenster der einzige Fluchtweg war, der ihr zu Gebote stand. Sie lief dorthin, dachte nicht daran, wie hoch es über dem Boden lag, und sprang hinunter.
    Sie tat einen schweren Fall, und der Aufprall warf sie gegen die Hausmauer, wo sie eine schreckliche Minute lang benommen liegenblieb. Doch sie durfte hier nicht im Schmutz verharren, bis sie wieder ganz bei sich war. Humpelnd, mit stechendem Schmerz im linken Bein, ging sie zur Seitenwand, wo der Fensterladen offen stand.
    Das Mondlicht war keine gute Lichtquelle; doch neben ihrem Vater brannte eine Kerze in einem verbogenen Halter. Die kleine Flamme reichte
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