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Blutzeichen

Titel: Blutzeichen
Autoren: Blake Crouch
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strich ihr über die wirren weißen Haare.
    »Mein Liebling«, murmelte er mit erstickender Stimme. Seine rot geäderten Augen tränten.
    Sein letzter Atemzug klang wie ein trauriger Seufzer.
    Eine halbe Meile entfernt flackerten blaue Lichter in der Nähe der Anlegestelle.
    Violet sah so müde aus und viel älter als noch vor einer Woche. Ihre Kleidung hing nur noch in Fetzen an ihr herab.
    »Violet.« Detective King schaute zu mir auf, wischte sich die dreckigen blonden Haare aus den Augen, das Sonnenlicht verlieh ihrem verstörten hübschen Gesicht eine falsche Wärme. »Ich muss gehen.«
    Sie ließ das Gewehr fallen, setzte sich auf das Deck und barg ihren Kopf in den Armen.
    »Wirst du klarkommen?«, fragte ich.
    »Ja.«
    »Sie werden sich um dich kümmern.«
    »Warte noch eine Sekunde.«
    »Ich kann nicht.«
    Ich beugte mich vor und küsste sie auf die Stirn.
    »Pass gut auf das Baby auf.«
    Ich lief zur Steuerbordreling. Das Wasser begann anderthalb Meter unter mir. Ich setzte mich rittlings auf die Stange und schaute zu Violet zurück – die zierliche Blondine saß am Bug und starrte auf den entfernten Tumult an der Anlegestelle. Über der Fähre lag eine unheimliche Stille, nur die Nationalflagge flatterte am Mast.
    Ich schaute hinab ins dunkle Wasser.
    Ich sprang hinein.
    Der Schmerz war unglaublich.
    Ich tauchte nach Luft schnappend auf, das eisige Salzwasser brannte auf meinen Verbrennungen.
    Auf der nahe gelegenen Sandbank hatten sich Kormorane niedergelassen. Sie kreischten und tauchten nach Fischen im seichten Wasser. Mein Gebrüll ließ sie in den heller werdenden Himmel auffliegen.
    Während ich auf das Ufer zuschwamm, ließ der Schmerz etwas nach, nur der linke Arm tat bei jedem Schlag fürchterlich weh.
    Das unbewohnte südliche Ende von Hatteras lag vor mir – nur Strand und Marschwiesen.
    Auf halbem Weg zum Ufer schwamm ich über eine Sandbank, erhob mich zitternd aus dem Wasser und stand knietief in der kalten See.
    Hinter mir klatschte etwas ins Wasser.
    Ich drehte mich um und blickte zurück zur Kinnakeet.
    Violet tauchte mit schlagenden Beinen und rudernden Armen wieder auf und bewegte sich ungeschickt paddelnd auf mich zu, schaffte es irgendwie, an der Wasseroberfläche zu bleiben.
    Schließlich kletterte sie neben mir auf die Sandbank.
    »Was machst du?«, fragte ich mit klappernden Zähnen.
    Sie zitterte so stark, dass es einen Moment dauerte, bis sie sprechen konnte.
    »Sie haben meinen Mann umgebracht.«
    Sie war nass und weinte.
    Ihr Atem dampfte in der Kälte.
    »Wovon redest du – «
    »Ich hab ihn gesehen, Andrew! Max hing in diesem furchtbaren Raum.«
    Sie sah mir mit einer derartigen Verzweiflung in die Augen, als flehte sie mich an, ihr eine tröstliche Lüge aufzutischen.
    Ich umarmte sie, und unsere Körper zitterten in der eisigen Morgenluft.
    »Ich habe nichts, wohin ich zurückgehen könnte«, sagte sie.
    »Du hast Familie und Freunde und – «
    »Nichts davon funktioniert ohne ihn.«
    Ich legte meine Hände um ihr Gesicht.
    »Sag mir, was du tun willst, Violet.«
    »Ich weiß es nicht, aber alles ist anders geworden. Ich kann nicht mehr nach Hause.«
    Sie schüttelte sich frei, glitt von der Sandbank hinunter und schwamm die letzten vierzig Meter nach Hatteras.
    Ich folgte ihr.
    Die Sonne war inzwischen vollständig aus dem Wasser aufgetaucht und strahlte hell und rund.
    Mein Kopf wurde leicht.
    Meine Glieder schwer.
    Die Welt verschwommen.
    Ich tauchte unter, kämpfte mich wieder an die Wasseroberfläche und dachte: Bleib beim nächsten Mal einfach unten.
    Violet hatte das Ufer erreicht und stand heulend im Dünengras.
    Langsam sickerte es ins Bewusstsein ein.
    Sie war zur Witwe geworden und hatte Dinge mit angesehen, die abseits von Kriegen nur wenige Menschen jemals sehen.
    Monster hatten sie in einer einsamen Wüste ausgesetzt.
    Doch ich war auch dort gewesen.
    Und ich hatte einen Ausweg gefunden.
    Ich könnte ihn ihr zeigen.

Epilog
     
    »Kannst du jetzt sehen?« Erneut die Stimme.
     
    »Oh.« Suchend schaute sie umher.
     
    »Du siehst es nicht – ein Kind hab ich
    Hier an der Hand.«
     
    »Was macht ein Kind hier mitten in der Nacht –?«
     
    »Spazieren gehen. Weil’s wichtig ist für jedes Kind,
    Einmal im Dunkel einer Nacht umherzustreifen.
    Nicht wahr, mein Sohn?«
     
    »Doch nicht an einem Ort wie diesem,
    Find einen bessren – «
     
    »Der Highway, wenn’s der Zufall will –
    Zwei Wochen bleiben wir bei Dean’s.«
     
    »Doch, wenn es das ist
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