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Missgeburt

Missgeburt

Titel: Missgeburt
Autoren: William C. Gordon
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1 EIN STÜCK FLEISCH
    D er Airedale-Mischling mit dem fehlenden Ohr riss sich von seiner Leine los und stürmte auf die Mülltonnen zu, die auf der Rückseite eines langgezogenen, mehrstöckigen Holzbaus in China Basin standen. Das unansehnliche, in einem stumpfen Gelb gestrichene Gebäude lag an einer schmutzig-tristen Einbuchtung der San Francisco Bay nicht weit von der Third Street Bridge, die mit ihrem riesigen Betongewicht, mit dem sie für die ein- und auslaufenden Lastkähne hochgeklappt werden konnte, zu den Wahrzeichen der Stadt zählte.
    Als eine der Mülltonnen unvermutet umkippte und sich ihr Inhalt über den mit Abfällen übersäten Boden verteilte, blieb der Hund abrupt stehen. Aus der scheppernd hin und her rollenden Tonne sprang ein großer Waschbär und verschwand in einem kaputten Lüftungsrohr unter dem maroden Gebäude. Instinktiv nahm er die Verfolgung des fliehenden Waschbären auf, brach sie aber nach einigen schnellen Sätzen wieder ab und lief zu der umgestürzten Mülltonne zurück. Aufgeregt schnüffelnd steckte er seine Schnauze in ein Leinenbündel, das mit den anderen Abfällen aus der Tonne gekullert war.
    Bis seine Besitzerin die Leine wieder zu fassen bekam, hatte der Hund das Sackleinen bereits so weit zerbissen, dass darunter ein Stück Fleisch zum Vorschein kam, über das er sich so gierig hermachte, dass in alle Richtungen blutige Fetzen davonstoben. Bevor der Hund alles in Stücke riss, zog ihn die Frau mit aller Kraft
zurück und band ihn am Geländer der Eingangstreppe des verfallenden Gebäudes fest. Dann setzte sie sich auf eine Stufe und überlegte, was sie tun sollte, wobei sie nervös an dem schlichten Kopftuch über ihrem blaugrauen Haar herumnestelte. Sie befand sich auf ihrer täglichen Runde durch das trostlose Gewerbegebiet südlich der Bay Bridge, zu der sie von ihrer Wohnung in der Castro Street aufgebrochen war. Die Mittfünfzigerin hatte frische Luft und Bewegung dringend nötig, da sie ihre Nächte im Camelot verbrachte, einer verrauchten Bar in Nob Hill, deren Geschäftsführerin und Mitinhaberin sie war.
    Außerdem hatte Melba Sundling gerade eine langwierige und hartnäckige Winterbronchitis überwunden, und angesichts des verstärkten Bewegungsdrangs, den sie seitdem verspürte, waren die täglichen Spaziergänge mit dem Hund genau das Richtige, um wieder zu Kräften zu kommen. Schließlich gewann Melbas Neugier die Oberhand. Sie stand auf, griff nach einer herumliegenden Holzlatte und stocherte damit in dem Bündel herum, während der aufgeregt winselnde Hund hektisch an seiner Leine zerrte. Unschlüssig, was sie von dem eigenartigen Fund halten sollte, band sie das Tier los und ging mit ihm rasch zur nächsten Telefonzelle.
    Sie ließ sich von der Auskunft die Nummer der Rechtsmedizin geben und rief dort an. Es war später Vormittag, und sie hatte Glück. Der Mitarbeiter, der ihren Anruf entgegennahm, war Stammgast im Camelot und stellte sie sofort zu seinem Chef durch.
    »Hallo, Melba. Was verschafft mir die Ehre?«, meldete sich Coroner Barnaby McLeod, der Leiter der Rechtsmedizin, der im Camelot ebenfalls kein Unbekannter war.
    »Das versuche ich gerade herauszufinden, Barney. Ich war mit Excalibur spazieren, und dabei hat er ein großes Stück Fleisch entdeckt, das in Sackleinen eingeschlagen war. Normalerweise hätte ich mir nicht groß was dabei gedacht, aber es sieht so aus, als wäre es abgesägt worden. Könnte durchaus sein, dass es sich
dabei um ein menschliches Körperteil handelt. Und damit dürfte es in Ihr Fachgebiet fallen.«
    »Das war eine gute Idee, mich direkt zu informieren, Melba«, sagte McLeod. »Wo sind Sie jetzt? Ich komme sofort hin und sehe mir das Ganze an, bevor die Cops dort alles durcheinanderbringen. «
    Sie erklärte ihm, wo sie war.
    »Warten Sie dort auf mich. In spätestens zwanzig Minuten bin ich bei Ihnen. Und sehen Sie zu, dass niemand dieses Stück Fleisch anfasst.«
    »Da sehe ich eigentlich keine Probleme. Hier draußen ist weit und breit keine Menschenseele. Aber lassen Sie mich bitte nicht zu lange in dieser Einöde warten.« Mit diesen Worten hängte sie auf.
    Aber sie war noch nicht fertig mit Telefonieren. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, tupfte ihr Haar unter dem Kopftuch zurecht und wählte erneut. Diesmal verlangte sie nach Samuel Hamilton und wartete, bis sie durchgestellt wurde.
    »Hier Samuel Hamilton«, meldete sich schließlich eine Männerstimme. Der Reporter war in seinem neuen Büro,
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