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Black Jesus

Black Jesus

Titel: Black Jesus
Autoren: Simone Felice
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entspannt, ihre weißen Haare wehen im Wind.
    Joe, der Hilfssheriff, sitzt mit feuchten Augen auf dem Beifahrersitz, hat das Fenster runtergekurbelt und will nicht glauben, was er da sieht. »Gloria! Wie in Gottes Namen hast du es geschafft …?«
    »Keine Zeit für lange Erklärungen«, japst sie und schiebt ihren Schützling auf den Rücksitz, wo Lionel – die Kapuze auf dem Kopf, die schwarze Brille auf der Nase – schon wartet, offensichtlich erleichtert, ihre Stimme zu hören. »Debbie, geben Sie Gas, bevor hier gleich die Hölle los ist.«
    Dämmerung auf der schmalen Bergstraße. Gänse vor einem rötlichen Abendhimmel. Ein grünes Metallschild mit den Worten »Town of Hunter«. Hohe Kiefern. Eine überdachte Brücke über einem zerfurchten Tal. Noch ein Schild mit den warnenden Worten: »Erdrutschgefahr auf den nächsten 800 Metern«.
    »Lasst uns doch das Radio anmachen«, sagt Gloria.
    »Muss man mir nicht zweimal sagen«, sagt Debbie White und dreht am Knopf. »Phil Collins!«, ruft sie begeistert und beginnt zu singen, die eine Hand am Lenkrad, die andere auf Joes Oberschenkel. »I can feel it comingin the air tonight.«
    Joe Two-Feathers kann nicht anders als mitzusingen, auch Gloria stimmt ein, sogar Bea kennt die Worte. Und zu aller Begeisterung fällt nun auch ein krächzender Lionel in den Chor ein – ihre Stimmen wie ein unbeholfenes Gebet in dem sich mühsam die Bergstraße hochkämpfenden Chrysler. »I’ve been waiting for this moment all my life.«
    Als sie an dem baufälligen Kartenhäuschen anhalten, mag der alte Mann seinen Augen nicht trauen, dass gleich eine ganze Wagenladung zahlender Besucher vorfährt. Sein Kopf erinnert an eine geschälte Kartoffel, doch er hat freundliche blaue Augen, als er sich aus dem Häuschen herauslehnt und mit zittriger Stimme sagt: »Schönen Abend, Kinogänger. Macht 6,50 pro Nase. Bei vier Nasen gibt’s eine Freikarte – unser Sonderangebot zum Saisonende. Macht also 27,50.«
    Niemand im Kombi bringt es übers Herz, seine Rechenkünste infrage zu stellen oder ihn darauf hinzuweisen, dass einer der Kinogänger gar nicht sehen kann – nicht mal Debbie. Joe öffnet seine Geldbörse, lehnt sich über das wogende Fleischpaket neben ihm, reicht dem Alten einen Zwanziger und einen Zehner und sagt, er solle den Rest behalten.
    »Danke«, sagt der Mann im Häuschen. »Stellen Sie Ihr Radio auf 88.9 FM und genießen Sie den Film. Nur eine Bitte haben wir noch: kein Alkohol und kein Sex.«
    »Versprochen«, sagt Debbie, schiebt die Automatik wieder in den Vorwärtsgang und rollt auf den großen, kahlen Platz, auf dem im Scheinwerferlicht nur dürres Unkraut zu sehen ist. Auf einer Seite des Platzes befindet sich eine Snackbar – Cola mit Eis, fettiges Popcorn, lange rote Lakritz-Stangen –, dahinter ragen hohe Bäume hinter dem Zaun empor.
    Und vor ihnen, unter freiem Himmel, taucht das magische Objekt auf, für das sie den weiten Weg auf sich genommen haben: die Leinwand des Autokinos. Ein Titan im Niedergang, verblasst, löchrig und obendrein körnig, als schließlich der Projektor in Gang gesetzt wird. Es läuft eine Liebesgeschichte. Und Bea wird lachen, und Bea wird weinen – und der Krebs wird nur noch ein Geist in ihrer Brust sein. Ab und zu wird sich Gloria zu Lionel beugen und ihm die Handlung ins Ohr flüstern. Und der Wind bläst in den Bäumen. Und die Heizung rattert unter dem Armaturenbrett. Aber wenigstens ist es schön warm hier. Und sitzen alle dicht zusammen und richten ihre Augen gebannt auf die riesige Leinwand – eine der letzten drei, die sich in diesem Bundesstaat noch befinden. Ein trauriges Relikt aus einer fernen Vergangenheit, als man abends noch mit dem festen Glauben zu Bett ging, dass dies Gottes Land sei.

Teil 3
    TEIL 3

Weil die dünnen weißen Birken am Wegesrand so nackt sind. Weil ihre blassen Zweige nach etwas greifen, das über sie selbst hinausweist. Weil die Sonne gerade aufging und ihr pastellfarbenes Schimmern allen Dingen einen übernatürlichen Glanz gibt – ihren Gesichtern, dem durchgerosteten Truck am Rande des Wegs, den Stiefeln, ihren Fingern, ineinander verschränkt, sogar der leeren Wodkaflasche zwischen den Blättern. Weil der November die Zeit zum Sterben ist. Weil der Teich, an den sie ihn führt, so regungslos ruhig ist. Weil das Leben so seltsam und so wirklich ist. Weil wir alle Löcher in uns haben, die gefüllt werden wollen. Deshalb bleiben wir einfach hier und machen weiter.
    Am Ufer des Teiches
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