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Black Jesus

Black Jesus

Titel: Black Jesus
Autoren: Simone Felice
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knirschend halten, als das letzte Tageslicht erstirbt.
    »Vielleicht bin ich ja immer blind gewesen.«
    »Was?«, schreit das Mädchen, als sie in die Zukunft schaukelt und ihren Hals drehen muss, um ihn wieder in ihr Gesichtsfeld zu bekommen. »Ich hab dich nicht verstanden.«
    »Vielleicht bin ich mein Leben lang blind gewesen.«
    Als sie im Dunkeln auf der Straße heimgehen und ihnen ein paar müde Lampen den Weg weisen, zieht Gloria Lionel White auf das leere Grundstück neben dem Shakespeare’s Bar & Grill.
    Geplatzter Asphalt unter ihren Füßen, vergilbter Löwenzahn. Der Mond über ihnen wie eine geschwollene Kupfermünze. Die Welt neu und frisch nach dem Regen. Nasse Blätter. Nasses Haar. Nasse Straße.
    Der Nachthimmel ist voller Bilder, die uns vielleicht zeigen können, woher wir kommen. Und im Handschuhfach von Interstates altem Truck, der hier gleich hinter der Bar vor sich hin rostet, finden wir vergilbte Straßenkarten, auf denen jeder noch so obskure Highway vermerkt ist. Aber werden uns diese Straßen wirklich nach Hause führen? Roaminggebühren. Amphetaminlabore. Asymmetrische Kriegsführung. Wir senken die Preise – alles muss raus! Identitätsklau. Öffentliche Solarien. Reality-Shows. Giftige Wertpapiere. Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen. Sechs Apotheken auf einer einzigen Straße im Gelobten Land. Aber kann dieses Land den Schmerz lindern?
    Die Stripperin berührt sein Gesicht. »Möchtest du tanzen?«
    »Lieber nicht«, sagt er.
    »Und warum nicht?«
    »Weil ich mir dann so schwul vorkomme.«
    Gloria lacht, ihr heißer Atem schießt in die kalte Luft. Ihre Finger lassen den Regenschirm fallen, damit sie ihn mit ihren Händen an sich ziehen kann, ihr Bauch gegen den seinen gepresst.
    Und so tanzen sie denn auf dem leeren Platz, in sich versunken, sein entstelltes Gesicht an ihrem, ihre Hand auf seinem Pullover, sein junges Herz darunter, ein kaum hörbares Metronom, das den Takt zu ihrem verlorenen Walzer liefert.
    Und so werden sie verheilen. So werden sie die Nacht hindurch tanzen. Werden die Dunkelheit wegtanzen – die Dunkelheit im Innern, die Dunkelheit da draußen.
    Sie fängt an zu summen. Ein Song, um die Löcher zu füllen, die sich in uns auftun. Siebzehn Kilometer im Osten steht der »Super Wal-Mart«, der größte im ganzen Bundesstaat, und der summt auch, Tag und Nacht, unnatürlich und ununterbrochen. Aber sie hören ihn nicht. Nicht diese Kids. Nicht heute Nacht. Nicht in Gay Paris. Wo der rote Fluss rauscht. Wo ein verkohlter Trailer in der Nähe des Ufers vergammelt. Wo verdorrter Mais auf den Feldern steht. Wo eine Ampel im Wind baumelt wie eine gehängte Hexe. Wo ein Kokaindealer nervös mit dem Fuß auf den Boden tappt, während er seine Waage manipuliert. Wo ein Ghettoblaster »Kuschelhits und Melodien von Gestern« spielt.
    Was ist nur mit dem zwanzigsten Jahrhundert passiert? Wohin ist es verschwunden? Ist Zeit so etwas wie eine Plastikbombe? Haben wir uns schon in alle vier Winde verstreut? Sind wir Tauben, wenn wir die Augen schließen – und Killer, wenn wir schlafen? Geraten wir schnell in Panik? Zucken wir zusammen, wenn am anderen Ende die Telefonleitung tot ist?
    Wir, die wir einzeln nicht mehr sind als ein Pixel, und doch gierig nach so vielen Dingen, dabei kleiner als ein Kieselstein am Strand, genauso schön, genauso grob.
    Wo bewegen wir uns hin? Wie wird das alles enden? Wird irgendetwas Unvorhergesehenes geschehen und uns an einem friedlichen Wintertag einfach verschlucken? Werden wir selbstvergessen in einem endlosen Regen tanzen? Ereilt uns die Seuche aus der Resterampe? Ein plötzlicher, greller Lichtstrahl, der uns alle erblinden lässt? Ein fahles Pferd, das auch kein Kuschel-Hit mehr besänftigen kann? I can feel it comingin the air tonight. I’ve been waiting for this moment all my life. Ich war da und hab gesehen, was du getan hast. Hab’s mit meinen eigenen Augen gesehen.
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