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Black Jesus

Black Jesus

Titel: Black Jesus
Autoren: Simone Felice
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Mohikaner-Augen und singt mit der Stimme im Radio: »Hold your head up, movin’ on. Keep your head up, movin’ on.«
    »Hallo, Kids«, sagt Bea und winkt mit dem Handschuh.
    »Hi, Bea«, sagt Gloria, die als Letzte hinzukommt.
    »Wie geht’s heute, Bea?«, fragt Black Jesus.
    »Kann nicht klagen. Gestern sah ich im Fernsehen einen Bericht über einen Mann, der einen Toaster in die Badewanne warf, in der seine Mutter gerade saß, weil er ihre Medikamente nicht mehr bezahlen konnte.«
    »Nun hör mit der Miesmacherei auf, Ma«, ruft Joe.
    »Wie geht’s mit dem Atmen?«, fragt Gloria.
    »Alles bestens«, lügt Bea. »Fühl mich wie Raquel Welch. Der Große Medizinmann hält schon seine Hand über mich. Wenn dieser Quacksalber aus Albany meint, mich mit seiner Katastrophendiagnose aus dem Rennen werfen zu können, wird er sich noch wundern.« Dann, leise zu Gloria: »Hast du vielleicht Feuer für mich?«
    »Ich hab’s genau gehört, Ma«, ruft Joe.
    Gloria schaut zu dem groß gewachsenen Polizisten hinüber, legt fragend den Kopf zur Seite, zuckt mit den Schultern, sucht in ihren Taschen und findet das Twin-Towers-Feuerzeug, das sie in einem anderen Leben einmal stahl und nun lächelnd Bea überreicht.
    »Danke, meine Liebe«, sagt die alte Frau, schüttelt mit ihrem Handschuh eine Zigarette aus der Packung und steckt sie sich zwischen die Lippen.
    »Behalten Sie’s ruhig«, sagt die Stripperin.
    Auf Debbies Drängen hin nahmen sie sich einen Schirm aus dem alten Gurkenfass, das mit derartigen Utensilien vollgestopft ist, überquerten die Hauptstraße und gingen auf dem Feldweg an der Kirche vorbei, bis sie hinunter zum kleinen Fluss kamen. Felsbrocken unter ihren Füßen, dazwischen nackte Wurzeln, von der Zeit zernagt.
    Gloria sieht wie eine Punkversion von Mary Poppins aus, als sie mit dem geschlossenen Regenschirm über der Schulter an ihrem Ziel ankommen. Eine Stufe noch geht sie hoch und hilft dem Soldaten auf die morschen Planken der »Swinging Bridge«.
    Auf halbem Weg, seine Hand in der ihren, jegliche Angst wie weggeblasen, ruft er begeistert: »Hör dir nur mal das Wasser an.«
    Die herbstlichen Regenschauer haben den Kaaterskill zu einem reißenden Strom anschwellen lassen. Im Sommer klar und transparent, färbt er sich zu dieser Jahreszeit in ein Ziegelsteinrot, da er auf seinem Weg aus den Bergen Klumpen aus dem Erdreich reißt – so rot wie die Gesichter der halb nackten Menschen, die einst hier fischten, das Gesicht wild bemalt, bekleidet mit Fellen und grobem Schmuck, nachts beim Tanzfeuer, mit Liedern an die fruchtbare Erde, Liedern von Geburt und Blut. Lange bevor der Marlboro-Mann kam und seine Knarre zog.
    »Das ist das erste Mal, dass ich ihn so höre.«
    »Den Fluss?«, fragt sie.
    »Ja, es klingt wie Musik«, sagt der Junge.
    Die Dämmerung naht, als sie zum Ortsrand kommen. Dort befindet sich ein verlassenes Ferienlager, das in den Jahren zwischen den Weltkriegen Problemkinder aus New York City aufnahm, die hier unter der Aufsicht der Nonnen von Gay Paris den Sommer verbrachten. Nur noch ein paar Ruinen stehen auf dem weitläufigen Gelände: die einst verglaste Cafeteria mit dem Naturstein-Fundament und dem einfallenden Dach. Die auch als Theater genutzte Kapelle, in der sie gemeinsam sangen. Das Nebengebäude mit den altmodischen Wasserpumpen. Und nicht zu vergessen: die Schaukeln.
    Und hier schaukeln sie nun also, und müssen ihre müden Beine noch einmal strapazieren, während die Novembersonne sich hinter dem Wald verliert und eine rosafarbene Naht gebiert, die den Himmel von den Bergen trennt.
    »Yippie! Hab ich schon nicht mehr gemacht, seit mir auf den Eiern Haare wachsen«, ruft der Soldat. »Und noch nie hat’s so viel Spaß gemacht wie diesmal.«
    Der Regen kam, wie im Radio vorhergesagt, entpuppte sich aber nur als flüchtiger Schauer. Als die ersten Tropfen fielen, hatte Gloria den Regenschirm aufgespannt, und die beiden hatten sich darunter verkrochen und den Regen kommen und gehen sehen.
    Nun riecht der Boden unter ihren Füßen, als sei er zu neuem Leben erwacht, der Wind weht in ihre Gesichter und ihre Haare, und die Bewegungen auf der Schaukel scheinen in der Dämmerung unerklärliche Spuren zu hinterlassen – wie kinetische Energie, die sich selbst ständig erneuert: die Geschwindigkeit, mit der sie schaukeln, die Art und Weise, wie sich ihre Wege in der Luft kreuzen. Der laute Wind. Das rostige Gestell, das unter ihrem Gewicht ächzt. Die Ketten, die sie noch
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