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Black Jesus

Black Jesus

Titel: Black Jesus
Autoren: Simone Felice
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setzt sich Gloria auf die feuchten Blätter und das kühle Gras. Sie hält Lionel noch immer an der Hand und hilft ihm, einen Platz gleich neben ihr zu finden. Hohe Rohrkolben wachsen um das Oval des Teiches, ihre ziegelbraunen Köpfe schwankend im Wind. Ein kaum wahrnehmbarer Geruch verbrannten Holzes liegt in der Luft – ein wunderbares Gefühl, wenn man ihn einatmet.
    »Ein Junge, den ich kannte, ist hier ertrunken.«
    »Black Jesus?«
    »Was ist?«
    »Ich bin nicht wirklich eine Ballerina.«
    Er antwortet nicht sofort, sondern lauscht der Stille der Wiese und des Waldes in seinem Rücken. »Was bist du denn wirklich?«
    »Nichts.«
    »Kann ich nicht glauben.«
    »Nur eine Stripperin«, sagt sie. »Jedenfalls war ich das früher.«
    »Wow. Das ist ziemlich cool.«
    »Zumindest bezahlte es die Rechnungen. Aber ich glaube, ich hab die falschen Leute angezogen. Und deshalb hab ich all den Ärger bekommen.«
    »Hast du auch an ’ner Stange getanzt?«
    »Klar.«
    »Und dir die Dollarnoten ins Höschen stecken lassen?«
    »Ja. Und im ›Velvet Room‹ hab ich den Männern sogar einen runtergeholt. Mein Gott, es kommt mir inzwischen wie eine völlig andere Welt vor.«
    »Schämst du dich heute dafür?«
    »Nicht wirklich. Aber ein bisschen angeekelt hat es mich schon.«
    »Wie hast du’s denn so lange durchgehalten?«
    »Hab oft geduscht«, sagt sie und schaut auf den kalten Teich. »Ich war drauf und dran, bei einer Ballettgruppe vorzutanzen, aber dann passierte die Sache mit meinem Bein, und ich lief einfach weg. Und jetzt sitze ich hier in Gay Paris im Bundesstaat New York und verliebe mich in einen Soldaten. Wer hätte sich so eine Geschichte ausdenken können?«
    »Was hast du gerade gesagt?«
    »Welchen Teil meinst du?«
    »Den Teil mit dem Soldaten.«
    »Vergiss es.«
    Sie sitzen in ihrer eigenen Stille. Der Geruch von verbranntem Buchenholz, der aus einem nahen Schornstein kommt, wabert gespenstisch durch die Luft.
    »Etwas ist passiert, als ich da drüben war, Gloria«, sagt er, seine kalte Hand in der ihren.
    »Weiß ich. Man hat dich in die Luft gejagt. Und deswegen bist du jetzt blind. Für den Rest deines Lebens bist du blind. Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, wie sich das anfühlt. Ich hab’s versucht, aber es geht nicht.«
    »Das mein ich nicht. Ich meine nicht, was mir passierte, sondern das, was ich sah. Etwas, das ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe.«
    Gloria atmet tief durch und wägt ihre Worte sorgsam ab. »Hat es vielleicht was mit der Tänzerin zu tun, von der ich dich reden hörte?«
    Der Soldat stößt ein hässliches kleines Lachen aus und sagt: »Oh, das. Nein, ich glaube, die Plastikbombe hat meinem Kopf einen derartigen Schlag verpasst, dass ich schon Erscheinungen hatte. Vielleicht war’s ja der Schutzengel, den ich in diesem Moment gern an meiner Seite gehabt hätte.«
    »Vielleicht war’s ja wirklich einer.«
    »Ein Engel?«
    »Warum nicht? Es gibt Seltsameres zwischen Himmel und Erde.«
    Black Jesus zieht die Luft tief ein. Als er sie wieder ausatmet, bildet sich ein blasses Wölkchen in der kühlen Morgenluft. »Gloria?«
    »Was?«
    »Es gibt keine Engel im Irak.«
    Sie hören wieder die Stille, dazu das Rauschen der Blätter, einen bellenden Hund und, weit in der Ferne, den Verkehr auf der 23A.
    »Vielleicht hab ich sie mir ja nur eingebildet, um das zu verdrängen, was dort wirklich ablief«, sagt der Junge. »Und dann, als du aufgekreuzt bist, verwandelte sie sich in dich – die Tänzerin, meine ich. Oder du verwandeltest dich in sie – wie auch immer. Ich weiß es nicht. Ich war einfach nur traurig und deprimiert, und die Albträume wollten nicht aufhören. Ich wollte mich an all die Dinge erinnern, die mir nun fehlen, aber es ging einfach nicht. Mein Kopf schmerzte ununterbrochen. All diese Pillen. Ich hatte das Gefühl, deine Stimme, deine bloße Anwesenheit wäre das einzige Mittel, um meine Gedanken davon abzulenken.«
    »Wovon?«
    »Ich hab’s bisher nicht übers Herz gebracht, darüber zu sprechen«, sagt er und senkt den Kopf, seine Stimme kaum hörbar. »Ich hab mit niemandem darüber gesprochen.«
    Sie nimmt seine Hand und legt sie auf ihren warmen Körper. »Mir kannst du es sagen.«
    »Ich hätte eigentlich gar nicht da sein dürfen, Gloria«, sagt er und dreht ihr sein Gesicht zu – das Gesicht mit der überdimensionalen Brille, die seine Wunden verbirgt – seine Wunden, die ihm nun noch schmerzhafter bewusst sind als je zuvor. »Sie bauten
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