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Bis zum Horizont

Bis zum Horizont

Titel: Bis zum Horizont
Autoren: Richard Paul Evans
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diesen Kontinent zu Fuß durchquert; dafür bin ich mindestens ein Jahrhundert zu spät dran. Tatsächlich wurde der erste Versuch vor über zweihundert Jahren von einem Amerikaner namens John Ledyard unternommen, der den Plan fasste, Sibirien zu Fuß zu durchqueren, mit einem russischen Pelzhandelsschiff über den Ozean ins heutige Alaska zu fahren und dann die restliche Strecke zu Fuß bis nach Washington, D.C., zu gehen, wo Thomas Jefferson ihn herzlich begrüßen würde. So sehen die Pläne von Menschen aus. Ledyard kam nur bis Sibirien, wo die russische Zarin, Katharina die Große, ihn festnehmen und nach Polen zurückbringen ließ.
    Seitdem haben mindestens ein paar Tausend Pioniere, Goldgräber und Bergsteiger den Kontinent durchquert, und das ohne luftgepolsterte Wanderstiefel, gepflasterte Straßen und – kaum zu glauben – ohne einen einzigen McDonald’s.
    Selbst in unserer Zeit gibt es eine beachtliche Liste von Leuten, die das Land zu Fuß durchquert haben, darunter eine neunundachtzigjährige Frau, die von Kalifornien nach Washington, D. C., ging, und ein Mann aus New Jersey, der in genau sechzig Tagen von New Brunswick nach San Francisco lief .
    Fast all diese Reisenden traten auf ihrem Weg für eine bestimmte Sache ein, für politische Reformen oder gegen das Übergewicht von Kindern. Ich nicht. Die einzige Fackel, die ich trage, ist die meiner Frau.
    Man könnte vermuten, dass ich mein Ziel wegen des milden Klimas, der strahlend weißen Strände und des topasblauen Wassers ausgewählt habe, aber das wäre ein Irrtum: Key West war einfach der Ort auf der Landkarte, der von meinem Ausgangspunkt am weitesten entfernt war.
    Ich sollte einschränkend ergänzen, dass Key West das Ziel ist, das ich anpeile . Nach meiner Erfahrung führen uns Reisen selten zu den Orten, zu denen wir unterwegs zu sein glauben. Schon John Steinbeck schrieb: »Wir unternehmen nicht eine Reise, eine Reise unternimmt uns.« Es ist ein Unterschied, ob man eine Landkarte liest oder ob man auf der Straße unterwegs ist, so wie es einen großen Unterschied macht, ob man eine Speisekarte liest oder eine Mahlzeit zu sich nimmt. So verhält es sich auch mit dem Leben. Wie heißt es so schön: »Leben ist das, was uns passiert, während wir andere Pläne schmieden.« Das stimmt. Selbst auf meinen Umwegen habe ich Umwege gemacht.
    Mein letzter Umweg hat mich mit einer Gehirnerschütterung und drei Messerwunden im Bauch in die Notaufnahme des Sacred Heart Medical Centers geführt, nachdem ich drei Meilen vor Spokane von einer Gang überfallen worden war. Das ist der Punkt, an dem Sie zu mir stoßen.
    Für diejenigen von Ihnen, die meinen Weg vom ersten Schritt an (oder noch davor) mitverfolgt haben: Ich habe Sie gewarnt, dass die Lektüre meiner Geschichte nicht einfach sein würde. Ich nehme an, das war keine Überraschung für Sie; niemandes Geschichte ist einfach. Niemand geht ohne Schmerz durchs Leben – davon bin ich überzeugt. Der Preis der Freude ist Traurigkeit. Der Preis des Habens ist Verlust. Man kann darüber jammern und klagen und das Opfer spielen – und viele tun das –, aber so ist es eben. Ich hatte viel Zeit, um darüber nachzudenken. Das ist einer der Vorteile des Gehens.
    In meinem ersten Tagebuch habe ich Sie auch gewarnt, dass Sie vielleicht nicht glauben werden oder nicht bereit sein werden für all das, was ich Ihnen mitzuteilen habe. Mit diesem Buch verhält es sich nicht anders. Entscheiden Sie selbst, was Sie glauben wollen und was nicht. Es spielt keine Rolle.
    Seit ich meinen Weg begonnen habe, habe ich erst 318 Meilen zurückgelegt. Das sind weniger als zehn Prozent der Strecke nach Key West. Aber schon jetzt habe ich tief greifende Erfahrungen gemacht; ich habe unterwegs Menschen getroffen, von denen ich glaube, dass ich sie treffen sollte, und ich bin sicher, dass ich noch mehr solcher Menschen treffen werde.
    Dies ist eine Geschichte der Gegensätze, von Leben und Sterben, Hoffnung und Verzweiflung, Schmerz und Heilung – und von dem unsicheren, schmalen Grat zwischen beiden Extremen, auf dem die meisten von uns wandeln.
    Ich weiß nicht, ob ich vor meiner Vergangenheit davonlaufe oder ob ich meiner Zukunft entgegengehe – die Zeit und die Meilen werden es zeigen. Von beidem habe ich reichlich, denn wie schon der Dichter Robert Frost sagte: Ich habe »Meilen noch zu gehn«.
    Ich freue mich darauf, das, was ich lerne, mit Ihnen zu teilen. Willkommen auf meinem Weg.

Zweites Kapitel
    Früher hatte ich
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