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Der Mann aus London

Der Mann aus London

Titel: Der Mann aus London
Autoren: Georges Simenon
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    Im Augenblick denkt man, es seien Stunden wie andere auch, und man merkt erst hinterher, daß etwas Außergewöhnliches daran war. Hinterher, da spürt man mühsam dem Faden nach, der sich durch das Geschehen hindurchzog, und man versucht die einzelnen Minuten sinnvoll wieder zusammenzufügen.
    Warum war Maloin an dem betreffenden Abend schlechtgelaunt von zu Hause weggegangen? Sie hatten wie gewöhnlich um sieben zu Abend gegessen. Es hatte gebratene Heringe gegeben, es war die Jahreszeit dafür. Ernest, der Junge, hatte ordentlich gegessen.
    Maloin fiel jetzt wieder ein, daß seine Frau etwas von Henriette gesagt hatte.
    »Henriette ist vorhin dagewesen.«
    »Schon wieder!«
    Seine Tochter hatte in der Stadt unten, praktisch im gleichen Viertel, eine Stellung als Dienstmädchen, als Mädchen für alles. Noch lange kein Grund, unter allen möglichen Vorwänden ständig zu ihrer Mutter gelaufen zu kommen. Und obendrein immer, um ihr Klagelied zu singen: Ihr Chef, Monsieur Laîné, hatte dies gesagt, Madame Laîné hatte jenes gesagt …
    »Es könnte sein, daß beim Apotheker eine Stelle frei wird, und da ist es immerhin sauberer als bei einem Metzger«, hatte seine Frau noch erläutert.
    Im Grunde war das völlig ohne Belang, aber Maloin war trotzdem übelgelaunt weggegangen. Seine schlechte Laune war übrigens auch belanglos: Sie hatte ihn nicht davon abgehalten, seine blau emaillierte, mit Kaffee gefüllte Henkelkanne und die von seiner Frau bereitgelegte Verpflegung mitzunehmen: Brot, Butter und Wurst.
    Er ging jeden Abend zur gleichen Zeit von zu Hause weg. Genau sechs Minuten vor acht. Sein Haus stand zusammen mit zwei, drei anderen Häusern auf der Steilküste, und wenn er aus der Haustür trat, sah er zu seinen Füßen das Meer mit der langgestreckten Hafenmole, und etwas weiter links das Hafenbecken und die Stadt Dieppe. Jetzt im Winter allerdings konnte er sich abends beim Weggehen nur an den Lichtern orientieren: die roten und grünen Lichter an der Mole, die weißen von den Kais mit ihrem Reflex im Wasser, und dahinter das ganze Lichtergefunkel der Stadt.
    »Es ist nicht so schlimm heute mit dem Nebel«, dachte er.
    Vier Tage lang hatten sie jetzt so dicken Nebel gehabt, daß die Leute in den Straßen manchmal zusammengestoßen waren.
    Maloin stieg den abschüssigen Fußweg hinunter, wandte sich nach links und ging in Richtung Brücke. Zwei Minuten vor acht ging er am Hafenbahnhof vorüber, und eine Minute vor acht setzte er den Fuß auf die eiserne Leiter, die zum Glaskasten seines Stellwerks hinaufführte.
    Er war Rangiermeister, aber im Gegensatz zu anderen Rangiermeistern, die in ihrer zwischen Gleisen, Dämmen und Signalen aufgepflanzten Kabine praktisch vom normalen Leben abgeschnitten sind, lag sein Posten direkt in der Stadt, ja sogar im Stadtzentrum. Das kam daher, daß sein Bahnhof anders war als die normalen Bahnhöfe: Es war ein Hafenbahnhof. Die Schiffe, die zweimal innerhalb von vierundzwanzig Stunden aus England hier eintrafen – um ein Uhr mittags und um zwölf Uhr nachts –, legten am Kai an, während der Pariser Schnellzug den normalen Bahnhof am anderen Ende der Stadt verließ, die Straßen von Dieppe wie eine Straßenbahn durchquerte und schließlich nur wenige Meter vom Schiff entfernt anhielt.
    Es gab im ganzen nur fünf Gleise und keine Zäune oder Dämme, die seine Eisenbahnerwelt von der normalen Welt getrennt hätten.
    Maloin mußte zweiunddreißig Sprossen bis zur Glaskabine hinaufklettern, in der sein Kollege von der Tagschicht sich bereits den Mantel zuknöpfte.
    »Alles klar?«
    »Alles klar. Auf Gleis zwei sind vier Kühlwagen gemeldet.«
    Er hörte nicht recht hin. Und dennoch sollte ihm das unbedeutendste Detail dieser Nacht in Erinnerung bleiben. Sein Kollege hatte einen langen wollenen Schal um den Hals, und Maloin fand, seine Frau könne ihm auch so einen stricken, nur dunkler, dezenter … Er stopfte die erste Pfeife und legte den Tabaksbeutel auf den Tisch gleich neben das Tintenfaß mit der violetten Tinte.
    Es war so richtig zum Wohlfühlen hier – der beste Beobachtungsposten in der ganzen Stadt. Man konnte die Lichter von zwei Fischkuttern erkennen, die weit draußen vor der Küste fischten und mit der Flut in den Hafen zurückkehren würden. Auf der Landseite, neben der Markthalle, hatte man das hell erleuchtete Café Suisse vor Augen, und dahinter kam dann die ganze Reihe der Geschäftsstraßen mit ihren Schaufenstern.
    In der unmittelbaren Umgebung war es
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