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Der Mann aus London

Der Mann aus London

Titel: Der Mann aus London
Autoren: Georges Simenon
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dunkel und still; überall geschlossene Fenster und Türen. Die einzige Ausnahme bildete das Moulin-Rouge mit seiner in schreienden Farben bemalten Tür, durch die die Musiker der Band gerade hineingegangen waren. Maloin wußte, daß sie bis etwa zehn Uhr vor leeren Stühlen spielen würden; dann erst kamen die ersten Gäste. Aber sie spielten trotzdem, und auch die Kellner waren auf ihrem Posten.
    Der eiserne Ofen glühte. Maloin stellte die Henkelkanne mit dem Kaffee auf die Platte und öffnete seinen Wandschrank, um die Schnapsflasche hervorzuholen.
    Seit nahezu dreißig Jahren verrichtete er nun die gleichen Dinge zur gleichen Zeit und am gleichen Ort. Um neun Uhr gab er den vier Kühlwagen den Weg frei; später dann der Rangierlok, die zum Hauptbahnhof von Dieppe zurückfuhr. Um zehn Uhr sah er in seinem Haus auf der Steilküste das Licht ausgehen, während es bei den Bernards noch hell blieb; die gingen nämlich nie vor elf zu Bett.
    Wie immer entdeckte er als erster die Lichter des Newhaven-Schiffs am dunklen Horizont, während es um seine Kabine herum an verschiedenen Punkten lebendig wurde. Die vier diensthabenden Zollbeamten kamen langsam daher; es folgten die Gepäckträger, ein Kellner vom Bahnhofsbuffet und ein Taxi. In den Bahnhofsräumen ging nacheinander das Licht an, und beim ersten Aufheulen der Schiffssirene erstrahlte der Kai in Festbeleuchtung.
    Maloin wußte, daß sein Zug den Bahnhof von Dieppe verlassen hatte, noch bevor die Rauchfahne aus dem Schornstein des Schiffs sich über das Hafenbecken dahinzog.
    Es war selbstverständlich, daß er sich mit dem Zug beschäftigte. Aber das geschah gleichsam im Unterbewußtsein und ohne daß er aufhörte, die Geschehnisse um sich herum zu registrieren – zum Beispiel Camélia, die auf das Moulin-Rouge zuging und hustete, bevor sie die Tür aufstieß und dann noch einmal, als sie eintrat.
    Jetzt begann die kürzeste Stunde der Nacht. Während auf dem Bahnhof die Türen der Güterwagen geöffnet wurden, glitt das Schiff an der Mole vorbei heran, drehte in der Mitte des Hafenbeckens und warf seine Taue aus. Die paar Leute auf dem Kai waren alle von Berufs wegen da, und sie brauchten nicht lange, um die paar Passagiere zu zählen: fünf in der ersten, und zwölf in der zweiten Klasse.
    Maloin goß sich Kaffee ein, kippte etwas Schnaps dazu und stopfte sich seine dritte Pfeife, die er im Stehen rauchte, und dabei blickte er auf die Gestalten hinunter, die sich zu seinen Füßen hin und her bewegten.
    Eigenartig, aber einer der Wartenden zog seine Aufmerksamkeit mehr auf sich als alle anderen. Man hatte wie gewöhnlich eine Absperrung angebracht, um sicher zu sein, daß die Passagiere nach dem Verlassen des Schiffs den Zoll passierten. Der betreffende Mann nun war aus der Stadt gekommen und stand außerhalb der Absperrung, fast genau unterhalb des Stellwerks. »Dem kannst du ja auf den Kopf spucken«, schoß es Maloin durch den Kopf.
    Der Mann trug einen grauen Regenmantel, einen grauen Hut und Wildlederhandschuhe. Er rauchte eine Zigarette. Weitere Einzelheiten konnte Maloin nicht erkennen. Die Leute von der Besatzung, die Zollbeamten und das Bahnhofspersonal waren mit den Reisenden beschäftigt, die die Gangway herunterkamen. Maloin allein – außer dem Mann in Grau – ahnte einen Schatten, der vorn am Schiffsbug stand, und im gleichen Augenblick warf der Schatten einen Gegenstand auf den Kai.
    Der Wurf erfolgte mit hinreißender Präzision, das reinste Akrobatenstück. Der Gegenstand war etwa fünfzig Meter vom Anlegeplatz entfernt gelandet, außerhalb der Absperrung, und der Unbekannte aus der Stadt hielt ihn wie selbstverständlich in der Hand. Er hatte noch nicht einmal zu rauchen aufgehört.
    Der Mann hätte sich jetzt entfernen können; es wäre niemandem eingefallen, ihn anzuhalten. Aber er blieb nur ein paar Meter vom Schnellzug entfernt stehen wie ein x-beliebiger Reisender, der auf einen Freund wartet. Das Gepäckstück schien leicht zu sein. Es war eines jener Handköfferchen aus Vulkanfiber, die gerade groß genug sind für einen Anzug und ein bißchen Wäsche. Henriette hatte auch so eines.
    »Was können die wohl geschmuggelt haben?« fragte sich Maloin.
    Aber es kam ihm keine Sekunde lang in den Sinn, die beiden Unbekannten, von denen der eine immer noch unsichtbar blieb, anzuzeigen. Das war nicht seine Sache. Wenn er nach England gefahren wäre, dann hätte er auch geschmuggelt, Tabak und Alkohol. Das taten ja alle.
    Eine junge Frau
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