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Bis zum Horizont

Bis zum Horizont

Titel: Bis zum Horizont
Autoren: Richard Paul Evans
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einen Terminkalender, und meine Stunden und Minuten waren genauestens verplant. Heute könnte ich nicht einmal mehr sagen, welchen Tag des Monats wir haben.
    Alan Christoffersens Tagebuch
    Meine zweite Nacht im Krankenhaus war hart. Ich hatte hohes Fieber und schwitzte stark, und mitten in der Nacht begann ich zu husten. Bei jeder Kontraktion fühlte es ich an, als würde mir noch eine Klinge in den Magen gerammt. Die Schwester sah nach meinen Verbänden, dann sagte sie mir, ich solle nicht husten, was nicht allzu hilfreich war. Trotz des Schlafmittels, das ich bekam, lag ich fast die ganze Nacht einfach nur da, einsam und leidend. Ich sehnte mich eindeutig mehr nach McKale als nach dem Leben. Natürlich, wenn sie noch bei mir wäre, dann wäre ich gar nicht erst in diesen Schlamassel hineingeraten. Irgendwann wurde ich von Erschöpfung übermannt, und gegen vier oder fünf Uhr morgens schlief ich schließlich ein.
    Am nächsten Morgen wachte ich auf, weil eine junge Krankenschwester um mein Bett herumlief, die Anzeige auf den Monitoren betrachtete und irgendetwas auf einem Klemmbrett notierte. Seit meiner Einlieferung ins Krankenhaus hatte mich eine Schar von Schwestern und Ärzten umschwärmt, doch in meinem Fieberwahn hatte ich sie kaum wahrgenommen. Sie waren nur hin und wieder kurz in meinem Bewusstsein aufgeblitzt, wie Tänzer in einem Musikvideo. Ich konnte mich an keinen von ihnen erinnern. Das hier war die erste Schwester, die ich bewusst wahrnahm. Sie war klein und zierlich und kaum größer als eine Stehlampe. Ich sah ihr ein paar Minuten zu, dann sagte ich: »Guten Morgen.«
    Sie sah von ihrem Klemmbrett auf. »Guten Tag.«
    »Wie viel Uhr ist es?«, fragte ich. Es war eine etwas merkwürdige Frage, da ich nicht einmal wusste, welchen Tag oder welche Woche wir hatten. Die letzten beiden Wochen waren ineinandergelaufen wie Eier in einem Mixer.
    »Es ist fast halb eins«, sagte sie. Dann fügte sie hinzu: »Heute ist Freitag.«
    Freitag . Ich hatte Seattle an einem Freitag verlassen. Ich war erst vierzehn Tage unterwegs. Vierzehn Tage und eine Ewigkeit.
    »Wie heißen Sie?«
    »Ich bin Norma«, sagte sie. »Haben Sie Hunger?«
    »Wie wär’s mit einem Eier-McMuffin?«, sagte ich.
    Sie grinste. »Nur wenn Sie einen finden können, der aus Wackelpudding gemacht ist. Wie wär’s mit etwas Pudding? Der Karamellpudding ist essbar.«
    »Karamellpudding zum Frühstück?«
    »Zum Mittagessen«, berichtigte sie mich, bevor sie erklärte: »Später werden wir Sie zur Computertomografie bringen.«
    »Wann kann ich den Katheter abnehmen?«
    »Wenn Sie allein auf die Toilette gehen können – was wir versuchen werden, sobald wir die Befunde von Ihrem CT-Scan haben. Leiden Sie unter Platzangst?«
    »Nein.«
    »Manchmal bekommen die Leute im Scanner Platzangst. Ich kann Ihnen etwas gegen die Angst geben, eine Valiumtablette.«
    »Ich brauche nichts«, sagte ich. Der Scan war mir egal; ich wollte nur den Katheter loswerden. In dem benebelten Zustand, in dem ich die letzten achtundvierzig Stunden verbracht hatte, hatte ich den Katheter, wie ich mich undeutlich erinnern konnte, einmal herausgezogen und eine Riesensauerei angerichtet.
    Ich hatte zwei gute Gründe, weshalb ich ihn loswerden wollte. Erstens, weil er wehtat. In diesen Teil des männlichen Körpers soll man einfach nichts hineinstecken. Zweitens, weil eine Infektion durch einen Katheter meine Frau das Leben gekostet hatte. Je früher ich dieses Ding loswurde, desto besser.
    Ein Krankenpfleger, ein stämmiger, sommersprossiger junger Mann in einem leuchtend violetten Krankenhauskittel, kam gegen zwei Uhr nachmittags, um mich abzuholen. Er machte die Drähte und Schläuche von meinem Körper los, dann rollte er mein Bett den Linoleumflur hinunter zur Radiologie. Ich wusste nicht, dass es mein zweiter Besuch dort war, bis die Assistentin, die die Apparate bediente, sagte: »Willkommen zurück.«
    »War ich schon einmal hier?«
    »Beim ersten Mal waren Sie bewusstlos«, erwiderte sie.
    Der Scan war langweilig, verblüffend laut und dauerte etwa eine Stunde. Als ich fertig war, rollte mich der Pfleger zurück in mein Zimmer, und ich schlief wieder ein. Als ich aufwachte, war Engel wieder da.

Drittes Kapitel
    Irgendwann in der Zeit zwischen der Messerattacke und meinem Aufwachen im Krankenhaus hatte ich ein Erlebnis, das nicht leicht zu beschreiben ist. Nennen Sie es einen Traum oder eine Vision, aber McKale kam zu mir. Sie sagte mir, meine Zeit zu sterben sei noch
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