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Bis zum Horizont

Bis zum Horizont

Titel: Bis zum Horizont
Autoren: Richard Paul Evans
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nicht gekommen, denn es gebe noch Leute, die ich treffen sollte. Als ich sie fragte, wen, antwortete sie: »Engel.« Wer ist diese Frau?
    Alan Christoffersens Tagebuch
    Als ich im Krankenhaus wieder aufwachte, saß eine fremde Frau auf einem Stuhl neben meinem Krankenhausbett. Sie war etwa in meinem Alter und trug Jeans und ein eng anliegendes T-Shirt. Ich fragte sie, wer sie sei. Sie sagte mir, wir hätten uns ein paar Tage zuvor in der Nähe der kleinen Stadt Waterville kennengelernt. Ihr Wagen war mit einem Platten am Straßenrand liegen geblieben.
    Ich erinnerte mich an die Begegnung. Sie hatte versucht, den Reifen selbst zu wechseln, die Radmuttern jedoch über den Straßenrand in eine tiefe Schlucht rollen lassen. Damit war sie endgültig aufgeschmissen gewesen. Ich hatte je eine Radmutter von den anderen Reifen abgenommen und ihren Ersatzreifen angeschraubt.
    Sie hatte mir angeboten, mich nach Spokane mitzunehmen, was ich ausgeschlagen hatte. Kurz bevor sie weggefahren war, hatte sie mir ihre Visitenkarte gegeben, die die einzige Kontaktinformation war, die die Polizei bei mir fand, denn mein Handy hatte ich schon am ersten Tag meiner Reise weggeworfen. Man rief sie an, und sie kam, unerklärlicherweise. Ihr Name war Annie, aber sie sagte, ich solle sie Engel nennen. »So nennen mich meine Freunde«, erklärte sie.
    Sie war bei mir, als die Ärztin mir sagte, dass ich zur Genesung noch ein paar Wochen häusliche Ruhe benötigen würde.
    »Ich bin obdachlos«, sagte ich.
    Ein betretenes Schweigen folgte. Dann sagte Engel: »Er kann mit zu mir kommen.«
    Seitdem hatte sie mich jeden Tag besucht. Sie kam stets abends und blieb immer ungefähr eine Stunde. Unsere Unterhaltung verlief so stockend wie die zweier Teenager bei einem Blind Date. Ich hatte nichts dagegen, dass sie kam – ich war einsam und freute mich über die Gesellschaft –, ich wusste nur nicht, warum sie kam.
    Heute Abend kam sie später als sonst. (Heimsuchungen eines Engels, nannte sie ihre Besuche übrigens.) Als ich aufwachte, war sie in ein Taschenbuch vertieft, eine Liebesgeschichte unter Amischen. Während ich sie ansah, begann ein Lied in meinem Kopf zu spielen.
    I’m on top of the world looking down on creation …
    Ironischerweise war es ein fröhliches Lied, und es spielte immer weiter, so nervtötend beharrlich wie eine zerkratzte Vinylschallplatte. Es handelte sich um einen Siebzigerjahre-Song – ein Stück aus meiner Kindheit. Die Carpenters . Meine Mutter liebte die Carpenters. Sie redete von Richard und Karen Carpenter, als wären sie Verwandte.
    Selbst als sie mit Krebs im Sterben lag, spielte sie ständig ihre Platten. Vor allem als sie im Sterben lag. Sie sagte, die Musik der Carpenters würde sie bei Laune halten. Als Kind kannte ich die Texte all ihrer Lieder auswendig. Ich konnte sie noch immer mitsingen. »Close to You«, »Rainy Days and Mondays«, »Hurting Each Other«. Ich weiß noch, wie ich das Logo der Carpenters mit Durchschlagpapier nachzeichnete und dann zu verbessern versuchte. Es war vermutlich mein erster Versuch in Sachen Werbegrafik.
    Meine Mutter spielte ihre Alben auf dem Plattenspieler unserer Zenith-Stereokonsole mit Walnussfurnier (ein riesiges Ungetüm, das fast die ganze Längswand unseres Wohnzimmers einnahm), und ihre Musik erfüllte unser Zuhause. Sie vermittelte mir immer ein Gefühl von Frieden, da ich wusste, dass diese Musik meine Mutter glücklich machte.
    Engel war noch immer in ihr Buch vertieft, als ich auf einmal begriff, warum mir das Lied in den Sinn gekommen war. Sie sah aus wie Karen Carpenter. Nun, nicht ganz. Sie war blond und vermutlich ein bisschen hübscher, aber sie sah ihr ähnlich genug, dass ein zweiter Blick gerechtfertigt war. Ich fragte mich, ob sie singen konnte. Während ich über die Ähnlichkeit nachgrübelte, sah Engel plötzlich auf. Sie lächelte, als sie bemerkte, dass ich sie ansah. »Hi.«
    Mein Mund war wie ausgedörrt, und ich glitt mit der Zunge über meine Lippen, bevor ich sprach. »Hi.«
    »Wie geht es Ihnen?«
    »Ein bisschen besser als gestern. Wie lange sind Sie schon hier?«
    »Etwa eine Stunde.« Schweigen. Dann sagte sie: »Sie haben im Schlaf geredet.«
    »Habe ich irgendetwas Tiefgründiges gesagt?«
    »Ich glaube, Sie haben nach jemandem gerufen … McKay oder McKale?«
    Ich zuckte zusammen, sagte aber nichts dazu.
    »Ich habe mit der Krankenschwester gesprochen. Sie hat gesagt, wenn mit Ihrem Scan alles in Ordnung ist, können Sie in ein paar
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