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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt
Autoren: Norbert Zähringer
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niemand. «He!», ruft der mit der Pistole, «ich weiß, dass ihr euch da hinten versteckt. Kommt raus. Dann passiert euch nichts!» Ich muss an meine Mutter denken. Ich muss daran denken, wie sie mir, kurz nachdem ich zur Guarda gegangen war, prophezeite, ich würde eines Tages wie Onkel Marcelo enden. «Allmächtiger», rief sie, von nun an könne sie keine Nacht mehr friedlich schlafen.
    Ich robbe in den nächsten Warengang hinein. Am Ende des Ganges liegt sie. Sie liegt auf dem Bauch, hat den Kopf zur Seite gedreht. Wir sehen uns an. Es ist komisch: Ich werde ganz ruhig und wünsche mir nichts mehr, als hier für immer zu liegen und sie anzusehen.
    «Wenn ihr nicht rauskommt, kommen wir und holen euch!», ruft der mit der Pistole.
    Ich höre das Kind weinen.
    «Hör auf damit!», schreit er, «mach, dass es aufhört, verdammt!»
    Dann höre ich die Stimme des älteren Mannes. Ich weiß, dass er es sein muss, denn die Stimme des Apothekers kenne ich. Außerdem hat er einen deutschen Akzent. Ich versuche, mir die Position jeder einzelnen Stimme genau einzuprägen.
    «Lassen Sie uns gehen, bitte», sagt er gefasst.
    «Halt die Fresse, Alter!»
    «Lassen Sie wenigstens die Frauen und das Kind gehen», beharrt er.
    «Halt die Fresse, oder du bist tot!»
    Ich bin mir nicht ganz sicher, aber in dem Moment war mir, als würde ich den älteren Mann leise lachen hören. Oder wollte er noch etwas sagen? Oder rief der mit der Pistole: Hör auf zu grinsen, Alter?
    Ich weiß es nicht mehr. Über das, was in den Sekunden darauf passiert ist, habe ich oft nachgedacht, habe es gegen meinen Willen in meinen Träumen wieder und wieder gesehen. Das Nächste, was ich höre, was wir alle hören, ist ein – Schuss.
    Ich springe auf. Richte meine Pistole auf ihn. Rufe über das Warenregal hinweg so etwas wie «Waffe weg!» oder «Keine Bewegung!». Ich weiß es nicht mehr.
    Im Bericht steht: «Waffe runter, Polizei!» Irgendetwas muss ja im Bericht stehen.
    Er denkt gar nicht daran. Auf dem Video der Überwachungskamera ist es genau zu sehen: Ich stehe hinter ihm, und als er mich rufen hört, dreht er sich um und reißt die Waffe hoch. Ich muss ihm ins Gesicht gesehen haben, doch in meiner Erinnerung, in meinen Träumen hat er kein Gesicht.
    Der Psychologe und Tritão warnten mich, Valentina. Sie sagten, ich solle nicht versuchen, ihm sein Gesicht zurückzugeben, das würde keineswegs helfen, im Gegenteil. Doch wenn ich nun schon eine Geschichte schreibe, die wahrscheinlich niemand lesen wird, dann sollte sie, denke ich, komplett sein.
     
    Abel Campos wurde in Sintra geboren, sein Vater besaß dort eine Autowerkstatt und sein Großvater ein kleines Restaurant, in dem seine Mutter mitarbeitete. Die ersten Jahre seines Lebens müssen sorgenfrei gewesen sein, doch dann passierte etwas. Vielleicht konnte sein Vater den Kredit für die Autowerkstatt nicht zurückzahlen, vielleicht wurde jemand in der Familie krank. Auf jeden Fall wurde das Restaurant geschlossen, verlor sein Vater die Werkstatt, und die Familie zog in einen Vorort von Lissabon. So kam es, dass Abel in der Nähe des Flughafens aufwuchs, nur einige hundert Meter Luftlinie von der alten Wohnung meiner Mutter entfernt. Vielleicht hat sie ihn irgendwann einmal gesehen. Vielleicht stand sie irgendwann einmal neben ihm an der Ampel. Vielleicht stand
ich
irgendwann neben ihm an der Ampel.
    Als Kind soll er viel Zeit damit verbracht haben, die Flugzeuge zu beobachten. Es heißt, er habe sich gewünscht, eines Tages Pilot zu werden. Dann, so hat er wohl gesagt, müsse er den Lärm nicht mehr hören und könne endlich schlafen.
    Seine Mutter war nun Zimmermädchen in einem Touristenhotel im Zentrum von Lissabon, und sein Vater verdingte sich als Aushilfsmechaniker an einer Tankstelle. Als seine Mutter anfing zu trinken, ließ sie der Vater sitzen.
    Seine Mutter trank weiter, verlor ihre Arbeit und hatte verschiedene Männer, deren größte Gemeinsamkeit es war, dass sie Abel regelmäßig verprügelten. Er begann zu klauen, ging nicht mehr in die Schule. Mit sechzehn erstach er einen Liebhaber seiner Mutter im Bett. Später behauptete er, der Mann, ein Rumäne, habe versucht, sie zu vergewaltigen. Da der Mann Rumäne war und seine Mutter sich an nichts erinnern konnte, kam Abel mit einer Bewährungsstrafe davon.
    Mit knapp zwanzig Jahren begegnete er Maurizio Sepa, einem gleichaltrigen, vorbestraften Epileptiker, dem man im Gefängnis übel zugesetzt hatte. Abel kümmerte sich um ihn,
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