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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt
Autoren: Norbert Zähringer
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bereitlag. Manchmal, bevor sie das Licht löschte, konnte sie von dort aus beobachten, wie eine Kakerlake ihre Fühler zunächst abwägend in den Luftstrom über dem Dielenboden hielt, bevor sie sich auf ihre allabendliche Strecke von der Heizungsverkleidung bis unter den röhrenden, alten Kühlschrank machte, das Licht meidend und mit Bewegungen, die gleichzeitig schnell und unscheinbar waren, als wollte das Tierchen unter allen Umständen verhindern, dass von seiner Existenz irgendjemand etwas mitbekam.
    Und auf einmal gab es Ratten. Es hatte vorher nie Ratten gegeben in der Wohnung ihrer Großmutter, aber auf einmal waren sie da, zwei Ratten, die sie ab und an des Nachts in dem zerbeulten Kehrichteimer unter der Spüle im Müll wühlen hörte, wo sie ein freudiges Quieken ausstießen, als hätte eine der beiden etwas Besonderes gefunden und hielte es der anderen zur staunenden Betrachtung hin. Über solchen Gedanken schlief Anna spät ein, denn sie achtete darauf, nie auch nur ein Auge zu schließen, bevor der letzte der saufenden Kumpane laut schnarchend im Wohnzimmer zusammengesunken war.
    Einmal freilich passierte es doch. An jenem Abend hatten sich ihr Vater und seine Freunde kurz und heftig der Rattenjagd hingegeben, hatten mit Stock und Klappspaten eines der Tiere verfolgt, das leichtsinnigerweise vor dem Löschen des Lichtes durch den Flur gehuscht war. Die Jagd blieb erfolglos, die Ratte kauerte hinter dem Küchenschrank, was Anna zwar wusste, aber nicht verriet. Schließlich gaben es die Männer auf und widmeten sich wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Trinken. Zu müde, um wach zu bleiben, hatte Anna auf einem Stuhl in der Küche zu dösen begonnen, hatte ihre Arme auf dem Tisch verschränkt und ihren Kopf daraufgelegt, war immer tiefer in das Dickicht uralter Träume gezogen worden und eingeschlafen.
    Sie wachte erst auf, als der Mann sie bereits von hinten umschlungen hatte und mit einer Hand unter ihrem T-Shirt nach ihren Brüsten grapschte. Schlaftrunken versuchte sie sich zu befreien, doch der Mann hob sie, etwas Unverständliches brabbelnd, hoch. Sie wollte schreien, doch gelang ihr nur ein Keuchen, so fest hatte sie der Kerl gepackt. Er bugsierte sie in Richtung der Matratze und stieß sie dorthin. Durch das Fenster darüber tauchte der Schein einer alten Straßenlaterne die Küche in bleiches Licht. Der Mann baute sich vor ihr auf: Er trug ein Unterhemd, eine alte Armeehose, keine Schuhe oder Socken. Er öffnete seinen Hosenlatz und holte ein schlaffes, seltsam käsig glänzendes Glied heraus, das er dann eine Sekunde lang, leicht wankend, betrachtete, bevor er es mit seinen Händen bearbeitete, wobei er weiterbrabbelte und Anna anstarrte. Anna griff hinter sich, konnte aber nichts anderes finden als eine verbogene Aluminiumgabel. Als sie die Gabel fest umfasst hatte, bereit, sie ihrem Gegenüber sonst wohin zu stoßen, sah sie etwas Graues über den Boden auf die Füße des Mannes zurennen, kurz auf dem Spann seines rechten Fußes verharren, bevor er aufschrie, fluchte und schließlich wild danach zu treten begann, ohne es zu erwischen. Durch den Lärm wachten die übrigen Trunkenbolde auf, standen mit blödem Grinsen im Türrahmen und fragten ihren Freund, was er da mache. «Ratten jagen natürlich», sagte er. «Mit offener Hose?», fragte Annas Vater, und der Mann, der eben noch seinen Schwanz massiert hatte, verzog sich, seinen Gürtel schließend, wortlos nach nebenan.
    Anna wusste, dass das nur ein Aufschub war. Und dass ihr Vater seinen Freund nur deswegen so feindselig angestarrt hatte, weil er der Anführer war und es bleiben wollte.
    Abzuhauen habe gar keinen Sinn, sagte ihr Vater am nächsten Morgen, denn er werde sie sowieso überall finden, früher oder später, und sie könne sich wohl denken, was er tun müsste, wenn er sie fände, nachdem sie ihn im Stich gelassen hätte.
    Als der Schneehaufen immer weiter zusammengeschmolzen war, erinnerte sich ihr Vater an ein paar andere Freunde, die Geld und Verbindungen hatten,
vornehme
,
saubere Freunde
, wie er sich ausdrückte, die man ja auch mal einladen oder gemeinsam besuchen könne, die würden einem vielleicht bei einem Engpass aushelfen, aber dann dürfe sie sich nicht mehr so anstellen, sondern solle ruhig netter sein, wirklich nett und nicht so zickig.
    Tags darauf öffnete er einem Mann die Tür, den Anna noch nie gesehen hatte. Ihr Vater führte ihn in die Küche, rief ihren Namen. Sie machte gerade den Abwasch, griff
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