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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt
Autoren: Norbert Zähringer
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nach dem Geschirrtuch, trocknete sich die Hände ab und drehte sich um.
    Er war jünger als Anna, gerade kein Kind mehr. Er hatte kurzgeschorenes dunkles Haar, war mittelgroß und breitschultrig. In seinem T-Shirt und den Trainingshosen sah er nicht sonderlich vornehm aus, aber wesentlich sauberer als die Saufkumpane ihres Vaters, die zwar auch Trainingshosen trugen, dies aber nur aus Bequemlichkeit taten oder weil sie gar keine anderen mehr hatten und es sich in diesen Hosen, gefälschten Markenhosen – die irgendwo in China von Menschen, die das falsche Bild gemalt, das falsche Lied gesungen oder einfach die falsche Geschichte erzählt hatten, zusammengenäht worden waren –, so sonderbar gut saufen und vor dem Fernseher einschlafen ließ. Der Junge hingegen wirkte, als würde er tatsächlich in seinen Hosen etwas trainieren, als käme er geradewegs aus einer Trainingshalle, einem Fitnessstudio, einem Sportstadion, einem Boxring oder wäre auf dem Weg dorthin. Er trug eine Hüfttasche, und in dieser Hüfttasche musste etwas Schweres verstaut sein, denn sie wurde vor seinem Bauch vom Gewicht des Inhalts nach unten gezogen.
    Er sagte nicht hallo. Er sagte gar nichts. Aus den Tiefen seiner Trainingshose zog er ein Handy, klappte es auf und fotografierte sie. Er kontrollierte das Bild, und bevor sie etwas sagen konnte, steckte er das Telefon wieder ein, nickte ihrem Vater zu und ging.
     
    An jenem Abend wunderte sich Anna. Sie wunderte sich auf eine Weise, wie es Forscher oder Wissenschaftler tun, wenn sie etwas entdeckt haben, das sie gar nicht suchten, dessen Existenz sie sich gleichwohl nicht so recht erklären können. In einer Schublade im Küchenschrank hatte sie ganz hinten ein altes, gerahmtes Foto gefunden: Es war in den verschneiten Bergen aufgenommen worden, vor einer Ewigkeit. Ihr Vater stand auf Skiern und hielt sie im Arm, und er lächelte sie an, und sie lächelte zurück. Sie war vielleicht zwei Jahre alt. Und sie wunderte sich genauso wie ein Gelehrter, wenn der einen Lichtjahre entfernten Stern beobachtet, fragte sich, was passiert war, zwischen dem Damals – dem Moment, in dem das Licht sich auf den Weg gemacht hatte, Teilchen und Welle zugleich – und dem Jetzt.
     
    Die Stunde vor der Dämmerung war immer die stillste gewesen, schon als sie noch gar nicht auf der Welt gewesen war und ihre Mutter, während Annas Großmutter noch schlief, am Ende einer ruhelosen Sommernacht hinter dem geöffneten Fenster dem einzigen Geräusch lauschte, das zwischen den Wohnblocks zu hören war – dem Klang des Sozialismus. Denn was sei der Sozialismus anderes als ein Dach über dem Kopf, war Annas Großvater nicht müde geworden zu sagen – und Elektrizität? Sechs dicke Hochspannungsleitungen, getragen von zwei nicht besonders hohen Strommasten, zerteilten die Wohnanlage, und war es still genug – das Lärmen der Kinder, die blechernen Stimmen der amerikanischen Fernsehserien, das Grölen der Trinker und das Schimpfen ihrer Weiber verstummt –, dann konnte man auch jetzt noch das sonore, tiefe Summen hören, das Summen des Sozialismus, das nur ein einziges Mal ausgesetzt hatte, im Jahr vor Annas Geburt, als es ein großes Unglück gegeben hatte, von dem ein Freund ihrer Mutter, ein Feuerwehrmajor, mit versengten Fußsohlen, ausgefallenen Haaren und so schlimmem Durchfall zurückgekehrt war, dass er drei Wochen später starb, was ihre Mutter damals sehr traurig gemacht haben musste, andererseits, sagte sie Anna einmal, wenn der Feuerwehrmajor nicht so krank aus Prybjat zurückgekommen wäre, dann wäre sie vielleicht niemals mit ihrem Papa zusammengekommen, und das wäre doch ungleich trauriger, so werde halt das Glück der einen mit dem Pech der anderen bezahlt, man könne es sich nicht aussuchen.
    Unter dem Strommast, dessen Leitungen die Milchstraße kreuzten, blieb Anna einen Augenblick stehen und lauschte dem Summen der Hochspannung, die Hunderte von Kilometern entfernt erzeugt wurde. Nichts weiter war zu hören, nur dieses Geräusch. Ihr kam es vor wie das Summen der Vergangenheit, der Nachhall der Kindheit, wie man ihn manchmal in besonderen Momenten hören, spüren und riechen kann. Und die Vergangenheit, so hatte ihr Großvater, der Bewacher von Spandau, ihr einmal gesagt, tue nichts lieber, als einen einzuholen.
    Es war Zeit, sich einen kleinen Vorsprung zu verschaffen. Behutsam, um ja keinen Lärm zu machen, ließ sie das Holzbein in den Müllcontainer gleiten, bevor sie ging.
     
    Natürlich
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