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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt
Autoren: Norbert Zähringer
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Freizeit macht, aber nicht um das Leben zu genießen, sondern um es zu vergessen. Es ist so eine Art zweites Leben, ein kleines Glück, das die Mühen des Alltags vergessen lässt. Die Männer aus dem Westen lieben und pflegen ihre Hobbys. Sie sammeln exotische Pflanzen, Fische, alte Schallplatten oder Spielzeugeisenbahnen. Sie kochen, puzzeln, züchten Hunde und seltene Fische. Es hält sie jung, verhindert, dass sie melancholisch werden und zum Wodka greifen. Deshalb sind sie so erfolgreich.»
    «Musik hören und lesen vielleicht.»
    «Weißt du, wie viele Mädchen es in meiner Kartei gibt, auf deren Kärtchen steht: ‹Hallo! Ich heiße Sowieso, meine Hobbys sind Musikhören und Lesen›? Hast du nicht noch was Besseres? Irgendwas? Es reicht schon, wenn es nur ein bisschen ungewöhnlich ist, damit du ins Gespräch kommen kannst.»
    Anna dachte an das Astrometrieseminar. «Astronomie.»
    «Astronomie? Gar nicht schlecht. Das heißt, du kannst die Zukunft vorhersagen und so was?»
    «Nein, die Zukunft vorhersagen ist Astrologie. Astronomie ist –»
    «Von mir aus. Aber sollen wir das so reinschreiben – Astronomie? Klingt ein wenig sperrig für den ersten Satz. Besser so: Ich heiße Anna. Ich kann gut mit Kindern umgehen und schaue mir gern die Sterne an.»
     
    Der Deutsche hieß Gerhard Laska und kam aus Berlin. Nachdem sie in einem armenischen Restaurant zu Abend gegessen hatten, liefen sie den Kreschatik bis zum Anfang. Dann hatte er die Idee, an der Philharmonie vorbei hinauf zum «Bogen der Freundschaft» zu gehen, einem kolossalen Denkmal aus Titan, das man anlässlich des 60 . Jahrestags der Gründung der Sowjetunion hatte aufstellen lassen. Mittlerweile mochte sich kaum jemand gerne an dieses Ereignis erinnern, doch war der Blick von dort oben überwältigend, man sah den alten Handelsbezirk Kiews und –
    «Das da unten ist der Dnjepr», sagte Laska, doch seinem Tonfall nach begeisterte ihn das gar nicht sehr.
    «Ja, ist Dnjepr», bestätigte Anna. Na toll, dachte sie, jetzt geht es gleich mit den Kriegsgeschichten los. Dabei schien ihr dieser Mann gar nicht
so
alt zu sein. Aber Hitler, dachte sie, soll ja bereits Fünfjährige in eine Uniform gesteckt haben.
    Der Deutsche blickte längst woandershin. Er starrte in den Himmel. Anna beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Er war etwas kleiner als sie, schlank und wirkte sportlich. Dass er bereits Rentner war, erkannte man an seinen weißen, kurzgeschorenen Haaren, die sich von der Stirn aufwärts zu einer Halbglatze gelichtet hatten. Er trug eine Brille und eine billige Uhr. Überhaupt sah er ziemlich durchschnittlich aus, und im Gegensatz zu den anderen «Interessenten» ging ihm das übliche Bei-uns-zu-Hause-ist-alles-anders-(sprich: besser)-Getue völlig ab. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie alt er war, aber es fiel ihr nicht mehr ein. Sechzig? Fünfundsechzig? Siebzig? Die Vermittlerin hatte abgeraten.
    «Er ist viel zu alt für ein so junges, attraktives Mädchen wie dich. Du kannst jüngere haben. Du willst an sein Geld? Dafür ist er wiederum zu jung. Der macht es noch zwanzig Jahre – zwanzig Jahre, die seine Verwandten darauf verwenden werden, sein Vermögen vor dir in Sicherheit zu bringen, und dann», säuselte sie mit übertriebenem Pathos, «bist du verblüht, mein Aschenbrödel, musst du die gläsernen Schuhe zum Pfandleiher bringen und einen Job als Bardame in einem billigen Puff in Castrop-Rauxel annehmen. Außer natürlich» – hier machte die Vermittlerin eine vieldeutige, auch irgendwie gezierte Bewegung mit ihrer goldberingten rechten Hand – «du gehörst zu dieser ganz besonders ausgebufften Sorte Mädchen, die, wie man so sagt, über Leichen gehn.»
    «Wo ist dieser Puff noch mal?»
    Da baute sich die Vermittlerin vor ihr auf, spitzte die übertrieben rot angemalten Lippen und sprach ihn nochmals aus – den Namen des Ortes, der allein schon von seinem Klang her nichts anderes als ein Synonym für Hölle sein konnte:
    «Castrop-Rauxel.»
    «Was sehen Sie?»
    Anna schaute ihn an. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und lächelte leicht, aber irgendetwas an seiner Frage roch nach Hinterlist, nach Heimtücke.
    «Was ich sehen?»
    «Ja. Was sehen Sie am Himmel?»
    Im Märchen von Aschenbrödel ist es nur ein gläserner Schuh, der fehlt. In der Wirklichkeit ist es manchmal mehr, manchmal weniger. Anna dachte nach. «Kapella, im Sternbild –», sie suchte nach einer passablen deutschen Übersetzung –
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