Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt
Autoren: Norbert Zähringer
Vom Netzwerk:
Taxifahrer mürrisch, «die machen da jetzt Events, so heißt das heute.»
    Sie bogen an einer großen Baustelle ab, dahinter erstreckte sich der Alexanderplatz. Sie konnte sich daran erinnern, dass es ein deutsches Buch gab, das so hieß, aber sie hatte vergessen, wer es geschrieben hatte. Jetzt fuhren sie offenbar Richtung Westen, kamen an einer Kirche und einem Museum vorbei, dann an der Oper, an der Universität, an Banken und Autosalons. Schließlich ging es nicht mehr weiter. Auf einem Platz, umgeben von alten und neuen Häusern, hielt der Fahrer an.
    «Fahren Sie außen rum und sammeln Sie uns bitte auf der anderen Seite wieder ein», sagte Laska, stieg aus und öffnete ihr die Tür. «Gehen wir ein Stück.»
    Der Anblick war ihr vertraut. Oft hatte sie als Kind die Schwarz-Weiß-Fotografie betrachtet: ihr Großvater, der junge, schneidige Leutnant Konew, wie er, die Mütze schief auf dem Kopf, neben einem kleinen Cabriolet vor dem Brandenburger Tor steht und lachend eine Zigarette raucht. Im Hintergrund, aber noch vor dem Bauwerk, zwei ausgebrannte Laster, ein zerstörter Panzer und dazwischen ein paar alte Frauen und Männer, die Steine zur Seite räumen. Weil die Sonne hoch im Rücken des Fotografen stand und die Aufnahme überbelichtet war, sah es so aus, als wäre jenseits des Tores nichts.
    Eine Viertelstunde später lag das Tor hinter ihnen, und sie fuhren, wie es Anna schien, wieder aus der Stadt hinaus.
    «Wohin fahren wir?»
    «Nach Kladow.»
    «Das ist Berlin?»
    «Ja», antwortete Laska, «gehört zu Spandau. Das war mal das Ende der Welt. Vorher kommt noch Gatow. Dahinter fing früher die Ostzone an.»
     
    Laska wohnte im letzten einer Reihe von Häusern, die man entlang einer schmalen Straße in den Wald gebaut hatte. Die Straße führte noch ein Stück weiter auf ein altes, geschmiedetes Tor zu, das mit einer rostigen Kette und einem dicken, plump wirkenden Vorhängeschloss gesichert war. Zwanzig Meter davor hielt das Taxi vor Laskas Haus, einem zweistöckigen Bau, der, wie Anna schätzte, gut dreißig Jahre alt sein mochte. Als sie ausgestiegen waren, deutete sie auf das geschmiedete Tor am Ende der Straße und fragte:
    «Wo geht dort hin?»
    «Nirgendwohin.» Laska zögerte, dann fügte er hinzu: «Früher konnte man bis runter an die Havel gehen. Dort steht so eine Art Gutshaus. Da war mal ein Erholungsheim drin. Für junge Mütter, glaube ich. Aber das ist schon lange zu.»
    Sein Haus kam ihr vom ersten Moment an seltsam vor. Sofort nachdem sie eingetreten waren, fiel ihr der Geruch auf: Es roch, als wäre die Zeit stehengeblieben. Fußboden, Türen, Decken, Wände wirkten nur auf den ersten Blick sauber – auf den zweiten entdeckte Anna, dass nicht nur die Ecken lange keinen Staubwedel oder Besen mehr gesehen hatten. Und dann war da die Einrichtung selbst. Sie hatte keine Ahnung, wie es im Westen früher in den Häusern ausgesehen hatte, aber die Möbel im Wohnzimmer – zum Beispiel eine auberginefarbene Couchgarnitur mit einem in Messing gefassten Glastisch davor – schienen jahrzehntealt. In einer schwarzen Schrankwand stand ein riesiger, eingestaubter Röhrenfernseher, der den Eindruck erweckte, als könnte er mit einem lauten Knall zerbersten, sobald ihn jemand wieder anschaltete. Und dann war da noch etwas: ein Gefühl von Abwesenheit, das Anna kaum beschreiben konnte, ein Gefühl, als wäre jemand hier gewesen und eines Tages einfach verschwunden.
    Laska seufzte. «Ja also, das isses», sagte er und sah sich dabei in seinem Haus um, als hätte er es selbst zum ersten Mal betreten. «Ich bin nicht mehr so oft hier. Das heißt – hier unten. Das Haus ist eigentlich viel zu groß. Für einen allein, meine ich.»
    Er drehte sich um und ging in die Küche, die vom Wohnzimmer abging. Anna sah durch die offene Tür, wie er in den Schränken nach etwas suchte, hörte Gläser klirren, ihn leise vor sich hin fluchen. Als er zurückkam, hielt er ein Tablett in der Hand, darauf zwei Gläser und eine Flasche Wasser.
    «Ich habe nur Wasser da», erklärte er, «ach ja – es gibt auch Bier.»
    Sie stellte sich vor ihn, versperrte ihm den Weg, betrachtete ihn. Was hatte sich dieser Mann eigentlich gedacht? Dass sie hierherkam und sofort in den Supermarkt marschierte, um seinen Kühlschrank aufzufüllen? Er wusste doch nicht erst seit gestern, dass eine Frau kommen würde, oder? Er brauchte eine Putzfrau, eine Haushaltshilfe, so viel war klar. Sie beschloss, die Anstandszeit, die sie bei ihm
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher